Die 10. Symphonie
Ciao.« Er schaltete das Handy aus, damit er nicht noch einmal gestört würde, und setzte sich dann mit einer Entschuldigung wieder zu Thomas' Tochter.
»Ich glaube, ich habe es dir schon am Telefon gesagt, als wir den Termin vereinbart haben, aber egal: Ich bin Musikwissenschaftler, Beethoven-Spezialist.« »Ah, wie dieser Freund von Charlie Brown, wie heißt der noch mal?«
»Schroeder. Aber ich spiele nicht einmal Klavier, sondern forsche nur über Beethovens Musik - und verehre ihn natürlich als Komponisten.«
»Ich verdiene meinen Lebensunterhalt auch mit Musik«, sagte sie mit ihrem unwiderstehlichen Lächeln, das Daniel erschauern ließ. »Konzertpianistin?« »Nein, Musiktherapeutin.«
»Von Musiktherapie habe ich schon gehört, aber ich weiß nicht genau, wie sie angewendet wird. Kann man auch schwere Krankheiten mit Musik heilen?« »Das nicht, aber man kann den Kranken helfen, den Mut nicht zu verlieren, was sich wiederum aufs Immunsystem auswirkt. Das ist zum Beispiel bei der Bekämpfung eines Tumors sehr wichtig.« »Arbeitest du in Krankenhäusern?«
»Gelegentlich. Aber da ich nur davon nicht leben kann, habe ich auch Privatpatienten.« »Bringst du ihnen bei, ein Instrument zu spielen?« »Das hängt davon ab, was die jeweilige Person braucht. Mit Musiktherapie kann man eine ganze Menge Leiden behandeln, nicht nur Depressionen, sondern auch Suchtprobleme und Essstörungen. Oder man leistet Hilfe in Stresssituationen. Daher lasse ich sie manchmal singen und manchmal einfach nur bestimmte Musik hören.« »Wie die Gymnopedie, die du eben gespielt hast?« »Zum Beispiel. Aber ich bin nicht auf irgendeinen Komponisten oder eine bestimmte Epoche festgelegt. Es kann ein Stück für Orgel von Leon Battista Alberti sein oder eine Oper von Alban Berg.«
»Die Musiker, die du genannt hast, verbindet etwas Besonderes: Sie waren beide Anhänger der Zahlenmystik.« »Ich weiß, deshalb mag ich sie. Mich fasziniert die Beziehung zwischen Musik und Zahlen. Das habe ich von meinem Vater.«
»Aber wenn man die Musik auf bloße Mathematik reduziert - nimmt man ihr dann nicht ihre Magie?« »Was sind die Noten denn anderes als Zahlen? Das A, auf das ein Orchester eingestimmt ist, wird mit 440 Hertz angegeben, die Taktzahlen sind Brüche, und die Notenwerte stehen in einer hierarchischen Beziehung zueinander, die in Zahlen ausgedrückt wird. Auch die Werke selbst werden mit Zahlen bezeichnet: Präludium Nr. 5, Symphonie 41. Etwas anderes ist, dass es Leute gibt, die behaupten, in Zahlen liege keine Poesie. Das ist meiner Ansicht nach Quatsch.«
Daniel nickte. Dieser Einstieg half ihm, ohne Umschweife sein Anliegen vorzubringen.
»Die Polizei hat mir die Tätowierung gezeigt«, sagte Sophie, als Daniel ihr alles erklärt hatte. »Aber ich wusste nicht, dass die Noten für Zahlen stehen. Andererseits erscheint es mir durchaus einleuchtend, denn solche Dinge begeisterten meinen Vater.«
Vor dem Sofa, auf dem sie sa ßen, stand ein niedriger Glastisch. Ein nachlässiger Kellner hatte einen Bierdeckel vergessen, mit dem Sophie nun herumspielte. Sie warf ihn auf dem Tisch hin und her wie eine Katze, die mit einem Wollknäuel spielt.
Daniel zeigte ihr die Folge der acht Ziffern. Thomas' Tochter betrachtete sie eine Weile, doch sie konnte nichts damit anfangen. Aber dann sagte sie: »Warte mal«, öffnete ihre Handtasche und holte die kleine Alberti-Scheibe heraus, die sie von ihrem Vater geschenkt bekommen hatte. »Weißt du, was das ist?«
»Natürlich«, antwortete Daniel, fasziniert von dem edlen Objekt. »Aber ich habe noch nie eine so alte gesehen. Ist sie echt?«
»Ich glaube schon. Freunde von mir nehmen an, dass Papa mir die Alberti-Scheibe gegeben hat, falls er mir irgendwann einmal eine verschlüsselte Botschaft zukommen lassen wollte. Mal sehen, ob wir aus den Zahlen, die du da hast, einen Text zusammensetzen können.« Sie probierten eine Weile mit der Scheibe und den Zahlen des Morsecodes herum, ohne zu einem zufriedenstellenden Ergebnis zu gelangen.
Schlie ßlich fragte sie: »Worum soll es in der Nachricht denn gehen?«
»Sie enthüllt möglicherweise den Ort, wo dein Vater das Originalmanuskript der zehnten Symphonie Beethovens versteckt hat.«
Diese Worte schlugen ein. Sie verwandelten die bisher so kooperative junge Frau in eine äußerst ungehaltene, loyale Tochter. Um Sophie wieder zu besänftigen, musste Daniel aus dem Stegreif einen Vortrag über die Kompositionsweise des Bonner Genies
Weitere Kostenlose Bücher