Die 101 Wichtigsten Fragen - Bundesrepublik Deutschland
Aber eines ist klar, überall, wo diese Generation auftauchte, wurde es eng: Aus dem Geburtenberg wurde ein Schülerberg, dann ein Lehrlings- und Studentenberg, schließlich ein Berg von Arbeits- und Wohnungssuchenden. Und in nicht allzu ferner Zukunft werden die Baby-Boomer einen Rentnerberg bilden.
54. Was versteht man unter «Wertewandel»? Welchen Werten, Normen und Einstellungen sind die Deutschen verpflichtet? Unterscheiden sie sich von denen der Franzosen oder Italiener oder Schweden? Wie will man dies herausfinden? Zum Klassiker der Wertewandel-Forschung wurde der kleine Beitrag eines amerikanischen Soziologen, Ronald Inglehart, aus dem Jahr 1971 über die «stille Revolution», wie er den Wertewandel so treffend genannt hat. Der Wertewandel vollzieht sich geräuschlos, doch die Folgen sind gewaltig. Was waren Ingleharts Beobachtungen? Nachdem die wirtschaftliche Blütezeit so lange andauerte, das materielle Grundbedürfnis nach Sicherheit befriedigt war und sich die sozialen Strukturen geändert hatten, sei in den westlichen Demokratien eine ganz auffällige Entwicklung in Gang gekommen: Große Teile der Bevölkerung setzten sich neue Ziele, andere Prioritäten.
Bis in die frühen 1960er Jahre hinein kann man für die Bundesrepublik eine hohe Konstanz im allgemeinen Wertekanon feststellen. Darauf folgte ein beschleunigter Wandel, dem sich wiederum eine ziemlich dauerhafte Bestätigung der so verschobenen Rangordnung anschloss. Vieles floss in den 1960er Jahren zusammen: Eine moderne Massenkultur breitete sich aus, neue, amerikanisch geprägte Kulturmuster, Lebens- und Denkstile überlagerten die traditionell-nationalen, die Erfahrung des Wohlstands bestimmte das Leben der meisten, das Konsum- und Freizeitverhalten orientierte sich am Wirtschaftswunder, die Medienlandschaft, besonders die flächendeckende Verbreitung des Fernsehens erweiterte den individuellen Erfahrungsraum, und auch die gesellschaftlichen Reformdebatten bewirkten auf längere Sicht eine Umorientierung und einen Einstellungswandel.
Anhand von demoskopischen Zeitreihen kann die Forschung belegen, dass es gravierende Wandlungen in Bewusstseinslagen, Normen und Leitbildern gab: «Pflicht- und Akzeptanzwerte», welche die Industriegesellschaft tragen, wie Disziplin, Zuverlässigkeit, Gehorsam sowie Ein- und Unterordnung, wurden zunehmend überlagert von postmateriellen «Selbstentfaltungswerten» wie Emanzipation, Ungebundenheit, Partizipation und Lebensqualität. Das betraf vorwiegend jene Bevölkerungsgruppen, deren Kindheit und Jugend in die Prosperität der Nachkriegszeit gefallen war. «Lebensqualität» und «Humanisierung der Arbeitswelt» stiegen zu massenwirksamen Losungen auf. Auf die Frage «Was ist Ihnen wichtiger in Ihrem Leben:Arbeit und Betrieb oder Familie und Freizeit?» entschieden sich 1973 67 Prozent der befragten Berufstätigen für Familie und Freizeit, nur 17 Prozent für Arbeit und Betrieb. Jugendstudien verdeutlichen den erheblichen Umbruch in den Erziehungswerten und Erziehungsstilen seit den späten 1960er Jahren. Weiterhin signifikant war ein allgemeiner Anstieg des politischen Interesses, und diese Hinwendung zur Politik verband sich mit dem Wunsch vieler Menschen nach mehr Aktivität und Engagement. Auch schwierig zu fassende Größen wie Lebensstile, Geschmack, Gebräuche und Mentalitäten waren einem Wandel unterworfen; man sieht es am besten in der Werbung. Es wäre ganz verfehlt, solche Veränderungen anzuprangern und die «gute alte Zeit» herbeizusehnen. Wertewandel vollzieht sich niemals geradlinig in eine Richtung, er kann sich schlängeln, abschwenken und die Richtung vollkommen wechseln. Jedenfalls erreicht er niemals einen Endzustand.
55. Gab es wirklich den «Pillenknick» und die «sexuelle Revolution»? Für Frauen war Sex lange Zeit mit der Angst besetzt, ungewollt schwanger zu werden. Als 1961 nach jahrelangem erbitterten Streit auch in der Bundesrepublik die Anti-Baby-Pille zugelassen wurde, schien dieses neue hormonelle Verhütungsmittel ungeahnte Freiheiten für die Frauen zu bieten. Jedenfalls theoretisch. In der Praxis wurden zunächst hohe Hürden errichtet. So verschrieben manche bundesdeutschen Ärzte die Pille nur an verheiratete Frauen, die mindestens schon zwei Kinder hatten. Die von Politik und Kirchen gepredigte Sexualmoral der 1950er Jahre war gewiss verzopft und konservativ, doch man muss auch betonen, dass dieses Klima den vehement verdammten vorehelichen Geschlechtsverkehr gar
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