Die 101 Wichtigsten Fragen - Bundesrepublik Deutschland
ostdeutschen Regionen, hatte der vierzig Jahre lang rabiat betriebene Kirchenkampf des atheistischen SED-Regimes Wirkung gezeigt und es war zu einer dramatischen Entkirchlichung gekommen. Hatte der Anteil der Protestanten an der DDR-Gesamtbevölkerung 1964 immerhin noch 60 Prozent betragen, so war er bis 1989 auf 19 Prozent abgesunken. Gegenwärtig herrscht eine Art «Drittelparität» in der Bundesrepublik: Etwas mehr als ein Drittel sind Katholiken, etwas weniger Protestanten und ein Drittel der Deutschen gehören keiner der beiden Kirchen an.
51. Wieso ist die «Spiegel-Affäre» wichtig? Anlässlich des NATO-Herbstmanövers FALLEX 62 veröffentlichte das Nachrichtenmagazin «Der Spiegel» am 8. Oktober 1962 unter der Überschrift «Bedingt abwehrbereit» einen Artikel des stellvertretenden Chefredakteurs Conrad Ahlers, in dem dieser brisantes Material über die mangelhafte Verteidigungsbereitschaft der Bundeswehr präsentierte. Dies führte zur Durchsuchung der Verlagsräume der Spiegel-Redaktionen in Hamburg und Bonn durch die Polizei; Berge von Materialien wurden kassiert und mehrere Personen verhaftet, darunter der Herausgeber des Nachrichtenmagazins, Rudolf Augstein. Der ungeheuerliche Vorwurf, mit dem diese Staatsaktion begründet wurde, lautete: «Landesverrat». Die Anschuldigungen erwiesen sich später als völlig haltlos. Der seit 1956 amtierende Verteidigungsminister Franz Josef Strauß handelte gesetzeswidrig – er ließ Conrad Ahlers in Spanien verhaften, obwohl dies gar nicht in seine Zuständigkeit fiel –, was die FDP-Minister geschlossen zum Rücktritt aus der Regierung veranlasste. Strauß spielte zunächst das Unschuldslamm, belog den Bundestag, verlor jedoch nach einigem Hin und Her sein Amt. Doch nicht wegen Lügen, Rachsucht und anderer Bosheiten sowie menschlicher Schwächen ist die Spiegel-Affäre so wichtig. Sie war die erste großeinnenpolitische Krise der Bundesrepublik Deutschland und läutete das Ende der Ära Adenauer ein. Ihre enorme öffentliche Resonanz signalisierte einen Wandel im öffentlichen Selbstverständnis der Bundesrepublik. Es entstand nicht nur eine kritische Öffentlichkeit als Vierte Gewalt, sie wurde gegenüber einem obrigkeitsstaatlichen Politikstil auch verteidigt. Gegen die rechtstaatlich zweifelhafte Aktion, die Willkür eines Bundesministers und die krasse Verletzung der Pressefreiheit gingen zahlreiche Bürgerinnen und Bürger auf die Straße und protestierten – das war ein Zeugnis eines wachsenden Selbst- und Demokratiebewusstseins.
52. Wer waren die «68er»? Ernesto Che Guevara, der kubanische Revolutionär, war 1967 in Bolivien erschossen worden. Obwohl er mit seinen 39 Jahren eigentlich schon zu alt war, ist er in Gestalt von Postern und T-Shirt-Aufdrucken in das kollektive Gedächtnis gleichsam als ein Muster-68er eingegangen – ein Jimi Hendrix mit Knarre. Politische Protesthaltung und Revolutionsromantik bündeln sich im Bild des entschlossenen, aber irgendwie auch traurig und seltsam weltentrückt schauenden Kämpfers. Alles vereint sich in dieser Person: die Revolution als Rausch, existentialistisches Pathos, religiöse Überhöhung, Verklärung von Gewalt. Dieser Held des antiautoritären Impulses hatte etwas Saftiges. Viele wollten so sein wie er, kaum jemand vermochte es.
68 war ein globales Ereignis. Die Bewegung war vielgestaltig und sehr heterogen. Die Wurzeln reichen bis zur Entstehung der «Neuen Linken» am Beginn der 60er Jahre zurück, als sich in London, Paris, Rom, besonders aber an amerikanischen Universitäten der Ostküste, dann auch in West-Berlin, dissidente intellektuelle Zirkel im Umfeld der Universitäten bildeten. Kapitalismuskritik und Renaissance eines undogmatischen Marxismus – daraus vor allem zimmerte man sich ein Gedankengebäude. Im Mittelpunkt stand bald der Protest gegen den Vietnamkrieg der Amerikaner, er synchronisierte die Bewegung über die Ländergrenzen hinweg. Guerillakämpfer in der «Dritten Welt» wurden bewundert, aber auch Menschenschlächter wie Mao verehrt. 1968 war das Jahr der Radikalisierung: In Frankreich nahmen die Proteste und Straßenschlachten ein Ausmaß an, das andere Nationen nicht kannten. Es kam sogar in Form eines Generalstreiks zu einer Allianz zwischen Studenten und Arbeiterschaft, die Grande Nation glitt in eine Staatskrise. In den USA wurde Martin LutherKing ermordet, Rassenunruhen brachen aus. Im Osten Europas stürzte die Freiheitsbewegung des «Prager Frühlings» das
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