Die 101 Wichtigsten Fragen - Bundesrepublik Deutschland
nicht verhinderte. Schätzungen zufolge pflegten zwischen 80 und 90 Prozent der Bundesdeutschen diese Praxis – und damit weitaus mehr als etwa in England, Frankreich oder den USA. Die ominöse «sexuelle Revolution» wurde also nicht allein durch die medizinische Erfindung der Pille ausgelöst, sondern geht allgemein auf einen Wertewandel zurück und zeigt sich auch in freizügigen und sexuell stimulierenden Bildern der Werbung, also in der Vermarktung der Sexualität im Konsumkapitalismus. Dass in der Werbung für die Seife «Fa» erstmals eine nackte Frau im Fernsehen gezeigt wurde, war eine Sensation. Rasch gesellten sich Softpornofilmchen wie «Schulmädchen-Report» hinzu. Nicht wenige katholisch-konservative Menschen waren entsetztund hielten, so stand es im «Spiegel» vom August 1970, die sexuelle Revolution für «eine Schlammflut, die alles versaut». Andererseits konnte man auf dem 82. Deutschen Katholikentag in Essen 1968 auch Plakate junger Christen sehen, auf denen stand «Wir reden nicht über die Pille. Wir nehmen sie» – ein Affront gegenüber dem Papst und den Bischöfen. Die Gemengelage war also vielfältig. Die Einführung der Pille ist später für den Rückgang der Geburtenziffern in der Bundesrepublik verantwortlich gemacht worden, man sprach vom «Pillenknick», wohinter wiederum eine Kritik am angeblichen Sittenverfall auftauchte. Dass sich das Verhalten der Deutschen wandelte, hatte indessen andere Gründe: Es lag im Wesentlichen am Strukturwandel der Familie, am berechtigten Wunsch vieler Frauen nach Erwerbstätigkeit, an einer verfehlten Familienpolitik der Regierung und an den nicht existierenden Betreuungsmöglichkeiten für Kinder. So ist es eine boshafte Unterstellung, den Frauen eine Art Verrat an ihrer «eigentlichen Bestimmung» vorzuhalten.
Die sexuelle Revolution verursachte Schwierigkeiten. Bereits Anfang der 1970er Jahre schrieb eine Frankfurter Studentin, die Pille werde zwar laufend als Fahrkarte zur Emanzipation dargestellt; tatsächlich aber heiße es nun, Frauen seien «neurotisch, frustriert oder gar repressiv, wenn sie nicht mit einem schlafen wollen». Oswald Kolle, der selbsternannte «Aufklärer der Nation», sorgte in den 1960er Jahren mit Filmen wie «Dein Mann, das unbekannte Wesen» und «Deine Frau, das unbekannte Wesen» für Furore und wollte damit den Deutschen die sexuelle Lust in die Schlafzimmer bringen. Als er in seinem 80. Lebensjahr 2008 seine Memoiren unter dem Titel «Ich bin so frei» veröffentlichte, bestätigte sich die Erkenntnis der jungen Studentin. Kolle erzählt darin von seiner eigenen Libertinage (während sich seine Ehefrau treu um ihn kümmerte), was unbeabsichtigt auch zur Entmystifizierung der sexuellen Revolution beiträgt, die angeblich die Frauen befreit habe. Für nicht wenige Frauen stand am Ende vielmehr die ernüchternde Einsicht, dass die sexuelle Befreiung hauptsächlich die Bedürfnisse der Männer befriedigte.
56. Warum trugen die GRÜNEN Turnschuhe? Natürlich trugen nicht alle GRÜNEN Turnschuhe, aber ein Bild erregte Aufsehen: Am 12. Dezember 1985 vereidigte ein ziemlich missgelaunter hessischer Ministerpräsident, Holger Börner (SPD), den ersten grünen Umweltminister,Joschka Fischer; dieser stand ihm im Wiesbadener Landtag in weißen Turnschuhen gegenüber, als er die Eidesformel sprach. Immerhin: Die Schuhe waren nagelneu, Fischer hatte sie erst am Vorabend besorgt. Dass die Schuhe vom US-Hersteller Nike stammten, nahmen ihm einige in seiner Partei übel – Antiamerikanismus war damals «in» bei den GRÜNEN, die in US-Präsident Ronald Reagan einen Reaktionär zu erkennen glaubten. 1980 hatten sich die GRÜNEN als Bundespartei gegründet, beanspruchten jedoch, keine Partei im üblichen Sinne zu sein. Ihr Fundament beruhte auf Umweltschutz, Frieden, Bürgerrechten, Basisdemokratie, Rotationsprinzip – und Flügelkämpfen zwischen den kompromisslosen Fundamentalisten («Fundis») und den reformerischen Realisten («Realos»). Fischer zählte zu den Letzteren, und mit dem Turnschuh-Coup gelang es ihm, ein Symbol zu schaffen: Eine Art Reliquie der Aussöhnung zwischen einer mittlerweile tolerant gewordenen Republik und ihrer in weiten Teilen vernünftig gewordenen Protestgeneration. Die GRÜNEN wirbelten vieles auf. Sonnenblumen auf den Parlamentariertischen, strickende Männer in Pullovern statt in Anzügen, dazu Rauschebärte und lange Haare, auf Parteiversammlungen bisweilen auch stillende Frauen – nicht
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