Die 101 Wichtigsten Fragen - Bundesrepublik Deutschland
Bölls «zeitgeschichtlichen Weitblick», womit er erneuernd in der deutschen Literatur gewirkt habe. Sein realistisches Schreiben thematisierte die sozialen und geistigen Missstände in der westdeutschen Gesellschaft, so etwa im Roman «Ansichten eines Clowns». Böll engagierte sich auch politisch, vor allem in der Friedensbewegung. 27 Jahre später, im Jahr 1999, konnte für das traditionelle «Familienfoto» der Gewinner der Nobelpreise auch Günter Grass posieren. Er erhalte den Preis, so teilte die Schwedische Akademie mit, «weil er in munter schwarzen Fabeln das vergessene Gesicht der Geschichte gezeichnet hat». Günter Grass gelang mit dem Jahrhundertroman «Die Blechtrommel» (1959) der Anschluss an die Weltliteratur und er wurde zu dem am meisten verehrten und gelesenen deutschsprachigen Literaten nach 1945. In seiner Heimat von Anfeindungen nicht verschont, ist Grass, so könnte man bilanzieren, noch vor Böll der wichtigste Repräsentant deutscher Gegenwartsliteratur.
«Made in Germany» – Die Wirtschaft
88. Wie sozial ist die soziale Marktwirtschaft? Im 60. Jahr ihres Bestehens schien es mit dem Paradestück der deutschen Nachkriegsgeschichte nicht gut bestellt zu sein. Die renommierte Bertelsmann-Stiftung förderte 2008 in einer repräsentativen Umfrage bedenkliche Einschätzungen zu Tage: Mehr denn je zweifelten die Deutschen an der sozialen Marktwirtschaft. Nur noch 31 Prozent der Bundesbürger hatten eine gute Meinung über das Wirtschaftssystem der Bundesrepublik. Zudem empfanden 73 Prozent die Einkommens- und Vermögensverteilung als ungerecht. Kapitalismuskritik war dabei in den ostdeutschen Bundesländern besonders ausgeprägt, hier hielten 53 Prozent der Befragten die soziale Marktwirtschaft für schlecht und nur 19 Prozent schätzten sie. Aber auch in den Ländern der «alten» Bundesrepublik sah es nicht gut aus: 35 Prozent gaben der sozialen Marktwirtschaft die Note mangelhaft, nur 34 Prozent beurteilten sie freundlicher.
Ist die soziale Marktwirtschaft, die in Ludwig Erhards Buchtitel von 1957 «Wohlstand für alle» ihr populärstes Versprechen fand, also unsozial? Welches waren ihre Kerngedanken? Den Begriff «soziale Marktwirtschaft» prägte der Ökonom Alfred Müller-Armack, der an der Universität Münster lehrte. Doch die Idee an sich hatte viele Väter. Vor allem Vertreter der so genannten Freiburger Schule der Nationalökonomie hatten sich seit den 1930er Jahren Gedanken über eine neue Wirtschaftsordnung gemacht. Müller-Armack bezeichnete mit seinem neuen Begriff eine, wie er es selbst nannte, «dritte wirtschaftspolitische Form» zwischen liberaler Marktwirtschaft und sozialistischer Planwirtschaft. In seinem Buch schrieb er, «dass uns die Marktwirtschaft notwendig als das tragende Gerüst der (…) Wirtschaftsordnung erscheint, nur dass dies eben keine sich selbst überlassene liberale Marktwirtschaft, sondern eine bewusst gesteuerte und zwar sozial gesteuerte Marktwirtschaft sein soll». Der Staat sollte demnach die sozial unerwünschten Auswirkungen der Marktwirtschaft auch in Gestalt einer ausgeprägten Sozialpolitik korrigieren.
Die Vaterschaft für diese Idee reklamierte dann allerdings sehr schnell Ludwig Erhard für sich. Als Wirtschaftdirektor der Bi-Zone hob er am 25. Juni 1948 die Preiskontrolle auf, was heute als Startschuss für das Wirtschaftswunder gilt. Damals füllten sich von einem Tag auf den anderen wieder die Regale in den Läden, der Schwarzmarktverschwand und die Produktion in den Fabriken zog an. Nur vier Tage zuvor hatten die Deutschen ihre fast wertlos gewordene Reichsmark in die neue D-Mark umtauschen dürfen; die Währungsreform galt den Zeitgenossen als größter Einschnitt der unmittelbaren Nachkriegszeit.
Wirtschaftsminister Ludwig Erhard stieg zum beliebtesten Politiker in Westdeutschland auf. Man darf aber nicht übersehen, dass die soziale Marktwirtschaft kein System war, das ein für alle Mal fertig war, sondern eine evolutionäre, also ständig veränderbare Ordnung darstellt, die flexibel auf neue Herausforderungen reagiert. Die Wissenschaft unterscheidet heute drei Phasen: die erste umfasst das Jahrzehnt zwischen 1948 und 1958, hier wurde die soziale Marktwirtschaft praktisch in Politik und Gesellschaft eingepflanzt; zwischen 1959 und 1973 erreichte die Ordnung ihre Blütezeit, geprägt durch Vollbeschäftigung und boomender Wirtschaft; seit der dritten Phase ab 1974 verblasste das Erfolgsmodell immer
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