Die 101 Wichtigsten Fragen - Bundesrepublik Deutschland
mehr, da internationale Wirtschaftskrisen und die Globalisierung ganz neue Rezepte erforderten. Dass Marktwirtschaft und soziale Gerechtigkeit aus ihrem Gegensatz herausgeführt werden sollen und staatliche Eingriffe notwendig sind, bleibt als Grundgedanke hochaktuell. Doch das Missverständnis beginnt dort, wo man glaubt, auch heute noch würde das deutsche Modell genauso funktionieren können wie in den 50er und 60er Jahren. Der damalige außergewöhnliche Boom mit nie wieder erreichten Wachstumsraten flankierte die soziale Marktwirtschaft à la Erhard. Manches spricht dafür, dass es ein Schönwetterkonzept war.
89. War das «Wirtschaftswunder» tatsächlich ein Wunder? Das «Wirtschaftswunder» gehört zum festen Bestandteil deutscher Identität. Und es ist verständlich, dass viele es gerne so sehen mochten und heute noch möchten, dass der Verlierer des Weltkrieges durch eigene Leistung zum ökonomischen Sieger aufgestiegen sei. Doch Wissenschaftler haben sich in den vergangenen dreißig Jahren viel Mühe damit gegeben, das Wirtschaftswunder von der Aura des Wundersamen, also Unerklärlichen, zu befreien. Herausgekommen sind komplizierte Darlegungen, die helfen, die ganz und gar einmalige Boomphase der westlichen Weltwirtschaft zwischen 1950 und 1973, als mit dem Ölpreisschock alles endete, zu erklären. Nie zuvor hat es eine so stürmische Hochkonjunktur gegeben, weder in der deutschennoch in der internationalen Geschichte. Das Realeinkommen pro Kopf verdoppelte sich in der Bundesrepublik zwischen 1950 und 1960, und bis 1973 verdreifachte es sich sogar. Im Durchschnitt lagen die Wachstumsraten der Jahre von 1950 bis 1975 bei 6,5% pro Jahr, die Investitionsquote war extrem hoch und auf dem Arbeitsmarkt herrschte Vollbeschäftigung.
Eine äußerst umstrittene Erklärung für die Boomphase sehen manche Wissenschaftler in der Existenz von «Langen Wellen» der Konjunkturentwicklung, wonach etwa alle 25 Jahre auf einen Abschwung ein Aufschwung folge. Andere wiederum meinen, Europa habe sich nach dem Krieg gegenüber den USA in einer Aufholjagd befunden, was die Ökonomie anfeuerte. Recht viel Erklärungskraft steckt in der «Rekonstruktionsthese», die besagt, dass vor allem das deutsche Produktionspotential infolge des Krieges von seinem Pfad, der steil nach oben ging, abgekommen, nach dem Krieg jedoch wieder auf ihn zurückgekehrt sei. Ermöglicht wurde dies, da entgegen dem Augenschein der Zerstörungsgrad keineswegs außerordentlich hoch war. Setzt man noch internationale Rahmenbedingungen hinzu, wie das Währungssystem von Bretton Woods und liberale Zollabkommen, und nicht zuletzt den Korea-Krieg 1950–1953, dann wird das «Wunder» erklärlich. Da die USA in den Koreakrieg verwickelt waren und wegen des eigenen Bedarfs ihrer Rüstungswirtschaft die Märkte der Welt nicht mehr ausreichend mit Gütern versorgen konnten, gelang es der Bundesrepublik und übrigens auch Japan, in diese Lücke zu stoßen. Hinzu kam, dass der Zerstörungsgrad der deutschen Industrie nicht so hoch war, wie man unmittelbar nach dem Krieg befürchtet hatte. Dank ihrer Exportkapazität wurde die westdeutsche Wirtschaft schnell in den Weltmarkt integriert. Das Gütesiegel «Made in Germany» bekam bald wieder einen guten Klang. Von Jahr zu Jahr kletterte das Bruttosozialprodukt, also der Wert aller Güter und Dienstleistungen, steil nach oben, von 79 Milliarden D-Mark 1949 auf 303 Milliarden im Jahr 1960. Es waren die 1950er und frühen 1960er Jahre, in denen die Bundesrepublik Deutschland wirtschaftlich zu einer Weltmacht wurde, die 1960 mit ihren Kapazitäten bereits hinter den USA an zweiter Stelle rangierte. Natürlich dürfen deutsche Besonderheiten nicht vergessen werden: eine enorme Leistungsbereitschaft der Menschen nach dem Krieg, ferner die gut ausgebildeten Facharbeitskräfte, die bis zum Mauerbau 1961 auch von Ostdeutschland nach Westdeutschland kamen.Schließlich spielten die Gewerkschaften, die Lohnsteigerungen von über acht Prozent durchsetzen konnten, ebenso mit wie die Arbeitgeber.
90. Schon einmal «MiFriFi» gehört? Kein Jahrzehnt war so optimistisch wie die dynamischen 1960er. Das betraf auch die Politik, die von einer nie da gewesenen Gestaltungsfreude, ja einer Planungseuphorie erfasst wurde. Diese rationale, wissenschaftsgestützte Planung half der Großen Koalition, die kurze Rezession von 1966/67 zu überwinden. Das Publikum staunte über die neuen, betörenden ökonomischen Wortschöpfungen, die wie
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