Die 101 wichtigsten Fragen: Deutsche Literatur
April 1767 wird das Hamburger Nationaltheater eröffnet, dessen Spielplan Lessing intensiv verfolgt und in seiner sogenannten
Hamburgischen Dramaturgie
, einer Textsammlung zwischen Rezension und Dramentheorie, begleitet. Im 75. Stück dieser Sammlung vom 19. Januar 1768 fällt der entscheidende Satz, der sein Aristoteles-Verständnis in nuce enthält. Seine Neuinterpretation ist nichts weiter als eine veränderte Aristoteles-Übersetzung, allerdings eine veränderte Übersetzung ganz entscheidender wirkungstheoretischer Begriffe: «Man hat ihn [Aristoteles] falsch verstanden, falsch übersetzt. Er spricht von Mitleid und Furcht, nicht von Mitleid und Schrecken.» Bei Aristoteles finden sich die Begriffe
phobos
und
eleos
, die man gewöhnlich mit Furcht und Schrecken übersetzt hat. Lessing reflektiert die Begriffe Furcht, Schrecken und auch Mitleid, um sich dann auf Furcht und Mitleid festzulegen. Das sind nicht nur gänzlich andere Begriffe, sie werden bei Lessing auch direkt aufeinander bezogen: «Diese Furcht ist das auf uns selbst bezogene Mitleid», heißt es im 75. Stück. Die Tragweite dieser veränderten Begrifflichkeit ist kaum zu überschätzen. Bei Aristoteles ging es um eine psychologische Konzeption. Das Drama sollte den Zuschauer deswegen in Furcht und Schrecken versetzen, um ihn genau von diesen Emotionen zu befreien und zu reinigen. Das war der Kerngedanke der aristotelischen Konzeption von Katharsis. Diese Konzeptionwird durch die Ersetzung der Begriffe durch Lessing in ihrer Grundstruktur radikal verändert. Es geht nunmehr um eine soziale Konzeption. Es geht darum, mit Hilfe von Mitleid und Furcht (also Mitleid mit sich selbst) eine emotionale Disposition zu schaffen, in der der Zuschauer nun selbst sozial handeln kann. Es geht um eine soziale Mobilisierung des Zuschauers. Dabei wird das Mitleid als eine zentrale ethische Kategorie ausgegeben. In seinem
Briefwechsel über das Trauerspiel
findet sich Lessings berühmter Satz: «Der mitleidigste Mensch ist der beste Mensch.» Auf dieser neuen anthropologischen Basis ruht die Funktion des Theaters. Im Theater geht es um nichts weniger als um, wie es im 78. Stück der
Hamburgischen Dramaturgie
vom 29. Januar 1768 heißt, die «Verwandlung der Leidenschaften in tugendhafte Fertigkeiten».
37. Warum schreibt ein liebender Vater seiner Tochter einen Brief? Vater und Tochter waren lange getrennt, denn die Tochter hat sich von einem Mann verführen lassen, der ihr die Ehe versprochen hat, und ist mit ihm abgehauen. Den Vater haben sie zurückgelassen. Aus dem Liebesabenteuer wird keine Ehe, Versprechungen bleiben unerfüllt, und je weniger die junge Frau das Eheglück zu fassen bekommt, umso größer wird auch ihre Sehnsucht nach ihrem immer noch geliebten, aber verlassenen Vater. Und auch der Vater liebt nach wie vor seine Tochter und will nur eins: seine Tochter wiedersehen. Und tatsächlich, Vater und Tochter finden sich, in einem «elenden Wirt hause» fernab ihrer Heimat. Vater und Tochter trennt nur noch eine Wand und … was machen sie? Er schreibt einen Brief.
Man kennt die Geschichte. Es ist die Geschichte der Miss Sara Sampson aus Lessings gleichnamigem Stück aus dem Jahre 1755 – also aus jener Zeit, in der die wirklich neuere, moderne deutsche Literatur anhebt. Ein frühes bürgerliches Trauerspiel, eines der ersten deutschsprachigen, das das englische Colorit zum Beispiel von Vorläufern wie George Lillos «domestic tragedy»
The London Merchant
(1731) übernimmt und damit auch an in England früher und umfassender entwickelte Vorstellungen von Bürgerlichkeit anknüpft.
Wir haben nun jedes Recht zu fragen, warum Vater und Tochter gerade in dieser Situation die lang ersehnte Begegnung vermeiden und der Vater stattdessen zum Medium des Briefes greift. Und es kommt noch schlimmer: Die Tochter weigert sich, ihn zu lesen – nicht weil sie von dieser Form der Kontaktaufnahme brüskiert wäre,sondern im Gegenteil, weil sie der Kontakt überhaupt zu sehr mitnimmt und sie fürchtet, der Vater könne ihr vorschnell verzeihen. Ein absolut kontraintuitives Verhalten! Warum verhalten sich die Figuren derart eigenartig?
Miss Sara Sampson
ist im eigentlichen Sinn ein ausgesprochenes Briefschreibdrama. Das Drama hat vier Hauptfiguren, die sich zu Suchpaaren gruppieren: Ein Vater sucht seine verführte und entführte Tochter, eine verlassene Geliebte sucht ihren Exliebhaber, beide Suchende finden die Gesuchten, die ein Paar geworden sind, in einem
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