Die 101 wichtigsten Fragen: Deutsche Literatur
Gasthaus. Beide Suchenden schreiben den Gesuchten jeweils einen Brief, und am Ende sind die beiden Gesuchten tot! Natürlich ist das eine fast bösartige Verkürzung. Im gesamten dritten Akt wird eine epistolare Grundsituation entfaltet. Als der Vater seinen Brief schreibt, erklärt er seinem treuen Diener: «Ich werde ihrer [= Saras] Gesinnungen dadurch gewiss und mache ihr Gelegenheit, alles, was ihr die Reue Klägliches und Errötendes eingeben könnte, schon ausgeschüttet zu haben, bevor sie mündlich mit mir spricht.» Wenn man so will: eine Medientheorie als Emotionstheorie in nuce! Als der Diener den Brief der Tochter überbringt, entspinnt sich zwischen ihm und Sara dann folgender Dialog:
WAITWELL: Nehmen Sie diesen Brief, Miß; er ist von [Ihrem Vater] selbst. […]
SARA: Gieb nur, ehrlicher Waitwell – Doch nein, ich will ihn nicht eher nehmen, als bis du mir sagst, was ohngefehr darin enthalten ist.
WAITWELL: Was kann darin enthalten sein? Liebe und Vergebung.
SARA: Liebe? Vergebung?
WAITWELL: Und vielleicht ein aufrichtiges Bedauern, daß er die Rechte der väterlichen Gewalt gegen ein Kind brauchen wollen, für welches nur die Vorrechte der väterlichen Huld sind.
SARA: So behalte nur deinen grausamen Brief!
WAITWELL: Grausamen? fürchten Sie nichts; Sie erhalten völlige Freiheit über Ihr Herz und Ihre Hand!
SARA: Und das ist es eben was ich fürchte. […] (ebd., S. 472f.)
Sara antwortet ebenso kontraintuitiv, aber konsequent und entfaltet die Paradoxie, die im Brief des Vaters angelegt war: Der Brief ist für sie grausam, weil er für sie nicht grausam ist und die väterlicheAutorität aussetzt. Und insofern kann man eine Antwort auf die eingangs gestellte Frage formulieren: Mit dieser inszenierten Situation gelingt es dem bürgerlichen Trauerspiel, ein Spannungsfeld sichtbar zu machen, in dem die Figuren stellvertretend für das bürgerliche Subjekt in jener Zeit stehen. In der Verweigerung des direkten Gesprächs durch Sara wird der Unterschied von direkter und indirekter Kommunikation, von Gespräch und Brief bedeutsam. Und damit werden wiederum andere Differenzen thematisierbar, wie zum Beispiel die von Emotionalität und Rationalität, von Begehren und Tugend, von Sexualität und Rationalität, von Gnade und Gesetz. Und all das macht eine neue aufgeklärte Anthropologie aus, deren soziale Relevanz im bürgerlichen Trauerspiel geradezu exemplarisch abgehandelt wird.
38. Warum muss Emilia Galotti sterben? Am Ende von Lessings gleichnamigem Drama, am 13. Mai 1772 im herzoglichen Opernhaus in Braunschweig uraufgeführt, will die Titelfigur Emilia Galotti Selbstmord begehen. Sie ergreift den Dolch, den ihr Vater in Händen hält. Da ein Selbstmord auch ein Verstoß gegen die Normen wäre, ist es ihr Vater, der sie davon abhält. So weit, so gut. Doch nun bringt Emilia in einer dramatischen Schlussszene den Vater selbst dazu, sie umzubringen. Sie gibt die Gründe an, warum sie umgebracht werden muss, und sie nennt zudem noch ein historisches Beispiel: «Ehedem wohl gab es einen Vater, der seine Tochter von der Schande zu retten, ihr den ersten, den besten Stahl in das Herz senkte […]». Aber wie konnte es bei Lessing zu dieser Szene kommen?
Die Geschichte spielt an jenem Tag, als Emilia Galotti einen Grafen Appiani, ein bisschen blass, aber dafür ein Schwiegersohn ganz nach dem Geschmack des tugendhaften Vaters Odoardo, heiraten soll. Unglücklicherweise hat sich der Fürst in diesem kleinen oberitalienischen Fürstentum, Hettore Gonzaga, in Emilia verliebt und setzt alles daran, sie zu seiner Mätresse zu machen. Nach dem Auftragsmord am Ehemann soll sie in das Stadthaus des Kanzlers gebracht und damit der Obhut der Eltern und insbesondere des Vaters entzogen werden. Allen Beteiligten ist klar, in welcher Gefahr Emilia schwebt. Sie ist der Verführung des Prinzen wehrlos ausgesetzt. Genau das sind die Ausgangsbedingungen jener Szene, in der Emilia sich selbst umbringen will und dann ihren Vater dazu bringt, sie zu töten. Emilia will sich auf keinen Fall der Gewalt des Prinzen beugen,und ist daher bereit, lieber zu sterben als sich hinzugeben. Aber ist die bürgerliche Moral mehr wert als das eigene Leben? Nein, doch wo bleibt dann das Bürgerliche?
Das Bürgerliche ist keine Standeszugehörigkeit mehr, sondern das Bürgerliche ist vielmehr ein bürgerliches Bewusstsein. Bürgerlich zu sein heißt, einer bestimmten bürgerlichen Moral zu folgen, ja mehr noch, sich als Bürger
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