Die 101 wichtigsten Fragen: Deutsche Literatur
Teufelspaktes, es finden sich aber auch bestimmte anthropologische Momente wie Wissensdurst und Hochmut. Die andere Quelle ist historischer Natur, es geht um den Kindsmord (siehe Frage 47).
Faust
ist ein Menschheitsdrama, ein Drama, das ganz grundsätzlich nach der
conditio humana
fragt. In der Frage, wie denn nun die Gelehrten- und die Gretchentragödie zusammengehören, kann man die beiden Motivstränge erkennen. Aber im Grunde genommen ist diese Frage falsch gestellt. Denn die Gretchentragödie ist ja auch ein Teil der Gelehrtentragödie, und die Gelehrtentragödie ist wiederum ein Teil einer größeren Tragödie, in deren Mittelpunkt nicht Faust als Gelehrter steht, wie es in seinen allerersten berühmten Versen deutlich zu werden scheint:
Habe nun, ach! Philosophie,
Juristerei und Medizin,
Und leider auch Theologie!
Durchaus studiert, mit heißem Bemühn.
Da steh ich nun, ich armer Tor!
Und bin so klug als wie zuvor; (V. 354–359)
Nein, es geht um Faust als den exemplarischen Menschen. Das wird an einer Wette deutlich, die in zweifacher Form im Rahmen, im
Prolog im Himmel
, und auch im Drama selbst geschlossen wird. Im Rahmen wetten Gott und Mephistopheles miteinander.
Mephistopheles:
Was wettet Ihr? den sollt Ihr noch verlieren! Wenn Ihr mir
die Erlaubnis gebt, Ihn meine Straße sacht zu führen.
DER HERR:
Solang er auf der Erde lebt, So lange sei dir’s nicht verboten,
Es irrt der Mensch so lang er strebt. (V. 312–317)
Karl Eibl hat in seiner Studie mit dem markanten Titel
Das monumentale Ich
als zentrales Bezugsproblem nicht nur dieser Wette, sondern des ganzen
Faust
die Frage gesehen, wie der Mensch im Spannungsfeld von Bestimmung und Unbestimmtheit situiert werden kann. Man könnte dies auch die Frage nach der anthropologischen Disposition des Menschen nennen: was bestimmt den Menschen, was macht ihn aus? Und die entscheidende Antwort muss sein: seine Unbestimmtheit, seine Offenheit, sein Streben, sein Immer-schon-über-sich-Hinaussein. Von daher ist diese Wette nicht ganz fair, denn Mephistopheles kann diese Wette nie gewinnen. Und selbst wenn er sie gewönne, hätte er sie im selben Augenblick verloren, denn wenn es ihm gelänge, Faust zu verführen und auf seine Seite zu schlagen, hätte dies wiederum die Offenheit des Menschen gleichermaßen bestätigt und damit Gott recht gegeben. Insofern ist auch die Binnenwette, die als Teufelspakt bezeichnet wird, eine Wette zuungunsten Mephistopheles’.
Faust:
Werd ich beruhigt je mich auf ein Faulbett legen,
So sei es gleich um mich getan!
Kannst du mich schmeichelnd je belügen,
Daß ich mir selbst gefallen mag,
Kannst du mich mit Genuß betrügen –
Das sei für mich der letzte Tag!
Die Wette biet ich!
Mephistopheles:
Topp!
Faust:
Und Schlag auf Schlag!
Werd ich zum Augenblicke sagen:
Verweile doch! du bist so schön!
Dann magst du mich in Fesseln schlagen,
Dann will ich gern zugrunde gehn!
Dann mag die Totenglocke schallen,
Dann bist du deines Dienstes frei,
Die Uhr mag stehn, der Zeiger fallen,
Es sei die Zeit für mich vorbei! (V. 1692–1706)
Auch in dieser Wette steckt eine Tautologie, die Mephistopheles schlichtweg übergeht. Faust wettet mit dem Teufel also, dass es ihm, dem Teufel, nicht gelingen wird, Faust in eine Situation zu bringen, die für ihn von solcher Qualität und Bedeutung ist, dass die Zeit schlichtweg aufhört. Was Faust hier imaginiert, ist ein Zustand des absoluten Präsens. Mephistopheles unternimmt nun alles, um für Faust jene Dispositionen zu schaffen, damit ein solches Erlebnis zumindest denkbar erscheint. Genau an diesem Punkt verschränken sich Gelehrten- und Gretchentragödie. Das Gelehrtentum, Bildung, wie wir heute sagen würden, selbst wenn sie auf die höchsten akademischen und intellektuellen Spitzen getrieben wurde, muss bei der Frage, was den Menschen zum Menschen macht, akademisch und damit unmenschlich bleiben. Die Bedingungen des Menschseins, so führt es uns Faust vor oder wird es uns an Faust vorgeführt, lassen sich reflexiv nicht mehr einholen, sondern bestenfalls praktisch.
Hier kommt – im wahrsten Sinne des Wortes – Mephistopheles ins Spiel. Er schafft entsprechende Erlebnisqualitäten: Er lässt Faust verjüngen, damit ihm bestimmte Erlebnisse überhaupt erst wieder zugänglich werden, er probiert einiges aus, aber schnell wird klar, wenn es ein solches Erlebnis gibt, dann muss es ein Liebeserlebnis sein, sowohl in emotionaler wie in sexueller Hinsicht. Als sich die
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