Die 101 wichtigsten Fragen: Deutsche Literatur
Beispiel ist der Roman
Lucinde
von Friedrich Schlegel (1799). Im Zentrum dieses Romans, der arabeskenartig von sechs Teilen ein- und sechs Teilen ausgeleitet wird, steht ein großer Mittelteil, der die eigentliche Geschichte erzählt und der einen bezeichnenden Titel trägt, der explizit auf Goethes Roman anspielt:
Lehrjahre der Männlichkeit
. In diesen Lehrjahren steht eine besondere Form von Sozialisation im Blickpunkt, nämlich vor allem eine erotische Sozialisation und die damit verbundene Frage, wie ein junger Mann eine ihm entsprechende Partnerin findet. Der Held durchlebt mehrere Beziehungen, bis er schließlich in Lucinde die ideale Partnerin findet. Ideal ist sie sicherlich nicht im Hinblick auf soziale Normen, denn Lucinde war schon verheiratet, sie ist nicht unschuldig, sondern vielmehr eine Frau von Erfahrung; ideal ist sie aber im Hinblick auf das Liebesmodell, das dieser Roman entfaltet: Die Liebe ist absolut und frei gegenüber sozialen Normen, und die Ehe ist lediglich der soziale Ausdruck dieser Form von radikaler Liebe. Dennoch ist dieser Roman nicht wirklich emanzipatorisch, weil diese Form der Liebe immer noch aus dem Fokus eines männlichen Entwicklungsweges entworfen und geschildert wird.
Allein innerhalb des Romans
Wilhelm Meisters Lehrjahre
erzeugen die als eigenes Buch eingefügten
Bekenntnisse einer schönen Seele
(Wilhelm bekommt dieses Manuskript von einem Arzt zur Lektüre) einen Gegensatz zwischen männlichem und weiblichem Entwicklungs-und Selbstfindungsweg. In diesem Text schildert ein weibliches Ich seinen Weg zu Gott. Es handelt sich um eine pietistische Glaubenserfahrung. Übrigens hatte Schiller den Begriff der schönen Seele ganz und gar als ästhetisches Konzept entworfen, das sich in bestimmten weiblichen Figuren mythologisch oder dramatisch ausdrücken lässt. Bei Goethe bilden diese eher religiös motivierten Erfahrungen einen bewusst inszenierten Kontrast zu Wilhelms Bildungsweg. Man kann hierbei durchaus von gegensätzlichen Bildungsmodellen ausgehen. So dienen die
Bekenntnisse
zwar dazu zu zeigen, dass Bildung immer auch sozial vermittelt sein muss und nicht in die geistige Isolation führen darf, wie dies hier vor dem Hintergrund pietistischer Selbstbeobachtung und Selbstbeschäftigung der Fall ist. Aber sie zeigen auch, dass Bildung selbst ein männliches Konzept per se darstellt.
55. Kann der Teufel eine Wette gewinnen? Goethe hat sein Leben lang am
Faust
gearbeitet. Idee und Konzeption haben Goethe durch all die Epochen begleitet, für die Goethes Namen auch immer stand, vom Sturm und Drang über den Klassiker bis hin zum späten Goethe. Man kann dabei vier verschiedene Stadien und Texte unterscheiden. Schon sehr früh, in seiner Sturm-und-Drang-Zeit, hat Goethe den Faust-Stoff für sich entdeckt. Parallel zum
Werther
schreibt er in den Jahren von ca. 1770 bis 1775 an einer ersten Fassung, die er dann wieder liegen lässt. Diese Fassung ist heute unter dem Namen
Urfaust
oder
Faust. Frühe Fassung
überliefert. In den Jahren 1788 bis 1790 widmet er sich wieder dem Dramenplan und fertigt eine neue Textfassung an, die allerdings nicht vollständig ausgeführt wird. Daher rührt der Namen dieser Fassung
Faust. Ein Fragment
. Ab 1797 nimmt er sich dieses Drama abermals vor, nun erhält es das mehrfach gestaffelte Vorspiel (
Zueignung
,
Vorspiel auf dem Theater
und
Prolog im Himmel
), und das Zusammenspiel von Gelehrten- und Gretchentragödie wird vervollständigt; im Jahr 1806 ist das Manuskript abgeschlossen, und es wird im Jahr 1809 unter dem Titel
Faust. Eine Tragödie
veröffentlicht. Als er an einer Fortsetzung, an einem zweiten Teil schreibt, nennt man diesen ersten Teil
Faust. Der Tragödie erster Teil
. An der Fortsetzung schreibt er ab 1825 bis zu seinem Tode 1832. Sie wird nicht mehr zu seinen Lebzeiten, sondern erst nach Goethes Tod veröffentlicht.
Während der zweite Teil des
Faust
die Handlung ganz eigenständig weiterführt und den Problemhorizont, der im Drama verhandeltwird, noch einmal radikal weitet, gehören die ersten drei Fassungen des
Faust
thematisch eng zusammen. Sie gruppieren sich alle um denselben dramatischen Kern, der sich wiederum aus zwei Quellen speist. Da ist zum einen die historische Figur des Faust, die schon vor Goethe ihren Weg in die Literatur gefunden hat und eine weitverzweigte und lange Tradition des Faust-Stoffes ausgebildet hatte (siehe Frage 20). In diese Tradition gehört ein Element von Zauberei ebenso wie das des möglichen
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