Die 101 wichtigsten Fragen: Deutsche Literatur
Kleist gemeinsam? Es ist schon bemerkenswert, ja geradezu paradox, wenn man erkennt, dass die Werte, die im Programm einer Weimarer Klassik vertreten wurden, wenig zu tun haben mit der Realität des Literaturbetriebs. Als Goethe und Schiller zusammen jenes Dioskurenpaar der Weimarer Klassik bildeten, wiederholten beide jene ablehnende Haltung gegenüber anderen Autoren, die zuvor Schiller von Goethe hatte erfahren müssen. Vielleicht ist diese Abgrenzung auch nur die negative Seite, deren positive Seite die Entwicklung der Weimarer Klassik ist. Wo sie sich zusammenschließen, schließen sie andere aus, was weitreichende literaturgeschichtliche und bisweilen auch existenzielle Folgen hat. So fällt es bis heute schwer, Autoren wie Hölderlin (siehe Frage 58), Kleist oder Jean Paul literaturhistorisch zu klassifizieren. Sie sind – wenn auch unterschiedlich – an dem Dioskurenpaar oder wenigstens an Goethe gescheitert. Jean Paul beispielsweise wäre gerne in Weimar ansässig und Mitglied dieses Programms geworden, aber die beiden ließen es nicht zu. Zu stark empfanden sie die Divergenz in ästhetischen Anschauungen und lehnten daher Jean Paul ab. Berühmt geworden ist Goethes Charakterisierung von Jean Paul als «Chinese in Rom» in einem gleichnamigen Gedicht, das Goethe in Schillers
Musen-Almanach auf das Jahr 1797
publiziert hat. Stellt man die Bedeutung in Rechnung, die Rom biographisch und vor allem ästhetisch – als Ort überlieferter Antike – für Goethe hatte, dann wird damit auf bösartige Weise zum Ausdruck gebracht, wie exotisch er Jean Paul, der ein anderes Verständnis von Ästhetik entwickelt, an gesehen haben muss.
Am dramatischsten ist sicherlich die Auseinandersetzung Kleists (1777–1811) mit Goethe. Die Literaturwissenschaftlerin Katharina Mommsen hat von
Kleists Kampf mit Goethe
gesprochen. Für Kleist, stellvertretend für eine ganze Generation junger Autoren, war Goethe die absolut überragende Gestalt. Man hat ihn verehrt, regelrecht vergöttert, aber sich auch an ihm gestoßen. Die psychischen Dynamiken liegen bei Kleist wie sonst bei keinem anderen Autor offen zutage: Er wollte von Goethe anerkannt werden, und als sich abzeichnete, dass Goethe ihm diese Anerkennung verweigerte, wollte er Goethe übertreffen, und als es wiederum bei diesem Versuch zum Konflikt kam,wollte er ihn überwinden. Kleist hat sich Goethes Anerkennung gründlich verscherzt. Dabei fing alles so gut an: Im Jahr 1808 wurde Kleists Drama
Der zerbrochne Krug
in Weimar uraufgeführt, inszeniert von keinem Geringeren als Goethe. Doch das Stück fiel durch, und Kleist gab Goethe die Schuld, wollte ihn gar zum Duell fordern, was ihm aber ausgeredet wurde. Schon zuvor hat Kleist bei Goethe um die Mitarbeit in seinem Kunstjournal
Phöbus
geworben. Unvorsichtigerweise hat man, noch bevor eine Antwort Goethes vorlag, mit seinem Namen Werbung gemacht. Das hat das Klima zwischen den beiden sicherlich nicht verbessert.
Fest steht allerdings auch, dass Goethe für Kleist und sein Schreiben kein Verständnis aufbrachte. Deutlich wird dies vor allem an seiner Reaktion auf Kleists Drama
Penthesilea
, das Kleist ihm zukommen ließ (siehe Frage 52). Hier offenbart sich ein ambivalentes Goethebild, das weit über den Konflikt mit Kleist hinausreicht. Goethe muss sich für einen Schlussstein der Literaturgeschichte gehalten haben, und als er merkte, dass eine jüngere Generation nachkam, die ihn anfangs verehrte, sich dann aber auch von ihm abwandte, um sich selbst und eigenständig zu positionieren, reagierte er unsensibel oder verständnislos. Dieser Verständnislosigkeit ist Kleist nicht als Erster und nicht als Letzter zum Opfer gefallen.
Bekannt geworden ist vor allem Goethes drastische Abwertung des Romantischen: «Klassisch ist das Gesunde, romantisch das Kranke» (
Maximen und Reflexionen
, Nr. 1031). Goethe wiederholt diese Einschätzung auch in den Gesprächen mit Eckermann (2.4.1829). Dass Goethe hier eine medizinische Diagnose als ästhetische Norm benutzt, ist bedenklich genug. Man kann sie immerhin auf seine naturwissenschaftlichen Auseinandersetzungen zurückführen, wo ‹krank› schlichtweg als ‹normabweichend› definiert wird. Das heißt aber auch, dass man seine Aussage als literaturpolitisches Statement verstehen muss. Es war der Versuch einer Abgrenzung in einem Feld literarischer Interessen. Den Romantikern, zum Beispiel Novalis oder den Schlegels, galt Goethes Roman
Wilhelm Meisters Lehrjahre
als
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