Die 101 wichtigsten Fragen: Deutsche Literatur
Musterbeispiel des Romans. Doch ab 1800 entwickelten sie eigene ästhetische Ideen, die auf neuartige Weise von der Philosophie gespeist wurden, zum Beispiel die Idee einer im endlichen Kunstwerk manifestierten Unendlichkeit. Die Rückkehr zu einer neuen Mythologie (siehe Frage 62) war nicht mehr mit jenen Vorstellungen, für die Goethe stand, zu vermitteln. Und insofern traf auch sie Goethes späterBannstrahl. Doch gerade damit wird in besonderer Weise deutlich, was wir heute bei der Kennzeichnung romantisch nicht mehr sehen: Die Romantik war eine Modernisierungsbewegung. Seit dem 17. Jahrhundert gab es immer wieder Neuauflagen jener Debatte, die man als
querelle des anciens et des modernes
bezeichnete. Dabei ging es um die Frage, woran man sich ästhetisch orientieren sollte: an den Klassikern, an den antiken Vorbildern oder aber an den (unterschiedlichsten) Ausprägungen von Modernität. Insofern lässt sich auch dieser Konflikt zwischen Goethe und den Romantikern als eine späte Ausprägung dieses Konflikts lesen. Goethe stand dabei für einen konservativen Standpunkt, die Romantiker für einen Prozess der Modernisierung.
Im Konflikt Goethes mit Kleist sah man schon eine Vorbereitung dieses Konflikts insofern, als man Kleist zu Unrecht als Romantiker klassifizierte. Als Goethe seine Abwertung formulierte, war die literaturgeschichtliche Entwicklung schon über ihn hinweg- und über ihn hinausgegangen. Goethes Zeit und die Goethezeit neigten sich dem Ende zu.
58. War Hölderlin verrückt? Friedrich Hölderlin wurde 73 Jahre alt (1770–1843). 37 Jahre davon galt er als verrückt oder wahnsinnig. 1806 wurde er zu einer ein Dreivierteljahr dauernden Behandlung in das Tübinger Krankenhaus gebracht und 1807 als unheilbar entlassen mit der Erwartung einer nur noch kurzen Lebensspanne. Er wohnte in einem privaten Haushalt unter familiärer, später öffentlicher Vormundschaft. Er begann auch wieder zu schreiben, litt mehr oder weniger stark unter Anfällen, Depressionen (wie wir heute sagen würden), Erregungszuständen und hat diesen Zustand, auch wenn er sich später stabilisierte, nicht mehr verlassen. Hölderlin verschwand aus dem Bewusstsein der Literaturgeschichte, lediglich als pathologischer Fall fand er noch einiges Interesse. Das änderte sich erst um 1900, als er als Autor und Dichter wiederentdeckt wurde, und dann noch einmal in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, als man sich intensiv um historisch-kritische Ausgaben seiner Werke bemühte.
Zu seinen bekanntesten Gedichten gehört sicherlich
Hälfte des Lebens
aus dem Jahre 1805. Es markiert in Hölderlins Schaffen selbst so etwas wie die Grenze zwischen den Hälften seines Lebens, zwischen seiner früheren und seiner späteren Phase. Und natürlich liegt es nahe, darin auch die Grenze zwischen dem gesunden und dem geisteskrankenHölderlin zu sehen. Ausgehend von diesem markanten Gedichttitel hat Hermann Zschoche 1984 in der DDR unter demselben Titel eine filmische Biographie Hölderlins gedreht.
Dieses Gedicht ragt auch deswegen heraus, weil es sich in seiner Form nicht in jene antikisierende Tradition einreiht, die Hölderlin auf bemerkenswert produktive Weise wieder aufgegriffen hat. Zudem ist der Text, gemessen an späteren lyrischen Texten Hölderlins, relativ kurz und in seiner Textgestalt relativ unproblematisch. Hölderlin hat intensiv an seinen Texten gearbeitet, und palimpsestartig sind auf den Manuskripten durch immer neue Korrekturen und Umschriften stark veränderte Fassungen entstanden, die bisweilen nur schwer zu rekonstruieren sind.
Das Gedicht
Hälfte des Lebens
selbst exemplifiziert seinen Titel durch eine markante formale ebenso wie semantische Zweiteilung zwischen einer sommerlichen und einer winterlichen Sphäre. Das Leben spielt sich im Sommer ab. Es ist produktiv und bringt Birnen und Rosen hervor. Vor allem aber ist es geprägt zwischen Trunkenheit und Nüchternheit und mithin zwischen Küssen und Heiligem. So könnte man das Eintauchen der Köpfe als eine Form der Ent-Schuldigung von jener Schuld lesen, die das Leben mit sich bringt, denn Birnen und Rosen hängen ja eben in jenes Wasser, in das die Schwäne ihre Häupter tunken. Die zweite Strophe schildert den Winter und ist in sich noch einmal geteilt, weil die Schilderung mit einer Erinnerung an den Sommer einhergeht. Die letzten drei Verse schildern dann den Winter. Mit den Fahnen sind die Blech- oder Windfahnen gemeint, die man im ländlichen Bereich noch auf den
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