Die 101 wichtigsten Fragen: Deutsche Literatur
außerhalb die Menschen in immer stärker ausdifferenzierte und komplexere Verhältnisse stellt. Er habe «sociale Verhältnisse symbolisch dargestellt», hat Goethe selbst zu seinem Roman angemerkt. Aber der Roman weiß mehr als seine Figuren, und insofern sind die
Wahlverwandtschaften
auch ein Roman über den Roman und ganz generell über Literatur. Sie stellen nicht nur soziale Verhältnisse symbolisch dar, sondern sie reflektieren auch die Möglichkeit der Literatur, ein solches Vorhaben überhaupt ins Werk zu setzen. Das gelingt dem Roman, indem er permanent Szenen vorführt, in denen die Figuren auf hochproblematische Weise mit solchen Symbolen umgehen. Ein sehr schönes Beispiel liefert Charlotte. Sie lässt nämlich Grabsteine versetzen und an einer Kirchenmauer entlang neu aufstellen. Sie zerstört damit die natürliche Beziehung zwischen Grabstein und Grab als Beispiel für das Verhältnis von Zeichen und Bezeichnetem. Die Grabsteine werden ihres symbolischen Charakters beraubt und sie bekommen dafür eine neue, eine ästhetische Funktion. Und vielleicht liegt in dieser kleinen Szene sogar eine große Diagnose moderner Verhältnisse: In der modernen Lebenswelt werden natürliche Relationen durch künstliche oder künstlerische ersetzt.
Das herausragendste Beispiel dafür liefert aber Eduard selbst. Denn er bringt die chemische Gleichnisrede auf, deutet aber das Konzept der Wahlverwandtschaften falsch. Er meint, weil er nun mit seinem Freund, dem Hauptmann, enger zusammenarbeiten könne, bedarf es eines weiteren Elements, Ottilie nämlich, die seinen Platz an der Seite Charlottes ausfüllt. Aber damit hat er sich gründlich getäuscht. Tatsächlichwird der Roman eine ganz andere Geschichte erzählen, es ist die Geschichte einer inneren Erosion einer Ehe, und insofern hat Goethe auch einen der ersten modernen Eheromane geschrieben (übrigens hat ein anderer berühmter Eheroman, Fontanes
Effi Briest
, gleichermaßen 36 Kapitel). Eduard verliebt sich in Ottilie, während Charlotte dem Hauptmann näherkommt. Aber es kommt nicht zu einem Bäumchen-wechsle-dich-Spiel. Charlotte lässt es nicht zum Äußersten kommen, sie hält an der Ordnung ihrer Ehe fest. Anders Eduard. Seine Liebe zu Ottilie wird so leidenschaftlich, dass er bereit ist, die Ehe gänzlich in Frage zu stellen. Nun ist die Ehe anders als der Sex keine natürliche, sondern selbst eine symbolische Verbindung, die gestiftet wird, um soziale Ordnung zu ermöglichen.
Immer wieder entdeckt Eduard Zeichen, die seine Leidenschaft zu Ottilie ‹bezeichnen› und damit überhaupt erst vorantreiben, zum Beispiel ein Trinkglas, in das die Buchstaben seiner beiden Vornamen Eduard und Otto eingeritzt sind, E und O, und das nicht zerbricht, obschon man es bei einer Richtfestzeremonie in die Luft wirft, oder zum Beispiel die Handschriften von Eduard und Ottilie, die sich immer mehr angleichen. Den Zwiespalt zwischen der natürlichen und der symbolischen Ordnung der Dinge hat Goethe in einer der markantesten Szenen der Weltliteratur dargestellt. Eduard zeugt mit seiner Frau, obschon die Ehe am Zerbrechen ist, ein Kind. Während die beiden Ehepartner miteinander schlafen, denken sie aber jeweils an andere Partner, Eduard an Ottilie und Charlotte an den Hauptmann. Das Kind trägt die Züge jener Partner, an die die Eheleute während des Aktes gedacht haben: ein doppelter Ehebruch der Phantasie. Kein Wunder also, dass dieses Kind, selbst ein Symbol, im Rahmen dieser symbolischen Ordnung keine Überlebenschance hat. Ottilie wird das Kind aus einem Boot in den See fallen lassen, es ertrinkt, ein Buch, das sie auch in der Hand hält, wird gerettet. Die symbolische Ordnung ist stärker als die natürliche. Und es setzt sich die Zerstörungslogik noch radikaler fort. Der Tod des Kindes befreit nicht die Eheleute, sondern erlegt ihnen eine besondere Schuld auf. Ottilie entsagt der Liebe und dem Leben, sie tritt in einen schweigenden Hungerstreik und stirbt, und Eduard stirbt ihr nach. Charlotte bestattet beide. Und so kommen wir noch einmal auf die (Symbolik der) Eigennamen zurück. Eduard heißt, wie gesagt, mit zweitem Namen Otto, Ottilie ist eine weibliche Form von Otto, Charlotte trägt zumindest einen Teil des Namens in ihrem Namen und der Hauptmann,obschon er zumeist nur mit seinem Funktionstitel angesprochen wird, heißt tatsächlich auch Otto. Und das Kind aus dieser
ménage à quatre
heißt ‹natürlich› auch Otto.
57. Was haben Hölderlin, Jean Paul und
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