Die 101 wichtigsten Fragen - die Bibel
Christi? Die Antwort des Briefschreiberslautet: Gottes Zeitbegriffe decken sich nicht mit der Zeitauffassung der Menschen; wenn die christliche Überlieferung das Kommen des Herrn «bald» erwarte, so könne das, menschlich betrachtet, noch sehr lange dauern.
Hat Jesus selbst geglaubt, dass eine große Umwälzung bevorsteht und das Reich Gottes bald kommt? Hat er sich selbst eine Rolle bei diesem Geschehen zugeschrieben? Mit diesen Fragen beschäftigt sich die historische Forschung seit mehr als hundert Jahren, ohne dass Antworten gefunden worden wären, die alle Forscher befriedigen. Nach Albert Schweitzer (1875–1965) waren Jesus und seine Anhänger in die Vorstellungen ihrer Zeit verstrickt; Jesus selbst habe sich für den «Menschensohn» gehalten, der als Richter wiederkommen und das Reich Gottes gründen werde. Darin habe Jesus geirrt. Was von seiner Botschaft bleibe, sei der Aufruf zur Nächstenliebe. Anders sieht es beispielsweise John D. Crossan: Jesus sei ein Weisheitslehrer gewesen. Von einem Weltgericht, einer ihm selbst vorbehaltenen messianischen Mission und einem politischen Gottesreich fänden wir bei ihm nichts. Das alles hätten ihm erst seine Anhänger zugeschrieben. Nicht Jesus habe sich geirrt, sondern seine Anhänger, darunter Paulus, hätten sich getäuscht. Zu Unrecht hätten sie Jesus die Schlüsselrolle bei der von ihnen erwarteten großen Umwälzung zugeschrieben.
90. Warum hat Judas Jesus verraten? Judas ist die finstere Gestalt im Kreis der zwölf Gefährten Jesu. Er half Vertretern des Jerusalemer Tempels, Jesus festzunehmen. Kurz vor der Festnahme verließ er Jesus, um sich zur Polizei des Tempels zu begeben. Diese führte er in einen Garten, wo sich Jesus und seine Jünger aufhielten. Judas ging auf Jesus zu, begrüßte ihn durch eine Umarmung – den berüchtigten «Judaskuss» – und machte so den Schergen deutlich, wen sie gefangen setzen sollen. Für seine Hilfe erhielt Judas dreißig Silbermünzen. Als er von der Todesstrafe für Jesus erfuhr, wurde er von Reue übermannt. Er will die Belohnung zurückgeben, doch sie wird nicht angenommen. Judas wirft das Geld in den Tempel. Dann geht er weg und nimmt sich das Leben (Matthäus 26,47–50; 27,3–5). Nach einer anderen Fassung kauft er mit dem Geld ein Grundstück, und verliert durch einen Unfall sein Leben (Apostelgeschichte 1,16–18).
Warum hat Judas Jesus verraten? Die Evangelien geben zwei Gründe an: (1) Judas erhielt Geld; er hat Jesus aus Gewinnsucht angezeigt(Matthäus 26,15). (2) Hinter dem Verrat steckt der Teufel, der – nach Auffassung des Lukas- und des Johannes-Evangeliums – in Judas gefahren ist. Judas wäre demnach das willenlose Werkzeug einer finsteren Macht gewesen (Lukas 22,3; Johannes 13,2). Beide Gründe können nicht überzeugen. Ein mögliches Szenario sieht so aus: Nachdem Judas den Glauben an Jesu Sendung verloren hatte, schied er aus der Schar seiner Jünger aus. Bei den Behörden zeigte er Jesus als Unruhestifter an. Diese Tat wird in den Evangelien als «Auslieferung Jesu» (an seine Feinde) bezeichnet – vielleicht ein Euphemismus für die Anzeige. Nur ein einziges Mal wird Judas «Verräter»
(prodótês)
genannt (Lukas 6,16). Erst Luther hat das emotional aufgeladene Wort vom «Verrat» auch dann verwendet, wenn die Evangelisten nur von der Auslieferung Jesu an seine Gegner sprechen. In den Evangelien sehen wir die Anfänge der Legendenbildung um Judas. Bis heute fehlt der sprichwörtliche Verräter in keinem Jesus-Film und Jesus-Roman.
91. Saulus oder Paulus? Wie heißt er richtig? In der Apostelgeschichte wird der später bekehrte Christenverfolger zunächst als «Saulus» eingeführt; später herrscht für dieselbe Person der Name «Paulus» vor. Einmal schreibt der Autor: «Saulus, der auch Paulus heißt» (Apostelgeschichte 13,9). Daraus hat man geschlossen, Saul sei der jüdische, Paulus der christliche Name. Paulus, Christ geworden, habe seinen jüdischen Namen abgelegt. Oder er wollte sich unerkennbar machen – er ist nicht mehr der alte Christenhasser, sondern ein anderer, neuer Mensch. Die Bekehrung ist sprichwörtlich geworden: von Saulus zu Paulus.
Diese Erklärung wird heute nicht mehr vertreten, so plausibel sie auch klingen mag. Auch als Christusgläubiger hat sich Paulus stets als Jude gefühlt. Er wollte das Judentum nie verlassen. Die Erklärung des doppelten Namens ist nicht schwer. Paulus lebte in zwei Welten: einer aramäisch sprechenden jüdischen Welt, in der er
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