Die 101 wichtigsten Fragen - die Bibel
Gestalt einer Stierskulptur, die als Symbol von Fruchtbarkeit und Kampfbereitschaft in den Tempeln von Bet-El und Dan aufgestellt war. Die biblische Erzählung ist aus dem Blickwinkel der Mose-Partei geschrieben, jener Richtung also, der das Judentum bis heute in der Ablehnung bildlicher Darstellungen Gottes folgt. Die Opposition gegen Mose hat Sigmund Freud stark beschäftigt. Der biblische Text, so mutmaßt er in seinem Buch
Der Mann Moses und die monotheistische Religion
(1939), verschweige die Rache der Opposition an dem überstrengen Volkserzieher: Mose habe seine Autorität nicht lange erhalten können; er sei von seinen Gegnern ermordet worden.
85. Mose ist zornig, Josef freundlich. Warum? Unterschiedlichere Menschen lassen sich kaum denken: Josef ist von heller, freundlicher Sinnesart, ein Mann, der mit allen auskommt. Seinen Brüdern, die ihn in die Sklaverei verkauft haben, kann er verzeihen
(Frage 9).
Mose dagegen ist verschlossen und zornig, er hadert mit jedem, der ihm Widerstand entgegensetzt: dem König von Ägypten, den Unzufriedenen in seinem eigenen Volk, den Übertretern des göttlichen Gebots. Als Mose das von Aaron angefertigte Goldene Kalb sieht, entbrennt sein Zorn, er zerschmettert die Schrifttafeln, die er kurz zuvor von Gott erhalten hat, lässt das Goldene Kalb zerstören und 3000 Menschen töten (Exodus 32).
Wie lässt sich dieser Unterschied der Temperamente bei zwei der prominentesten biblischen Gestalten erklären? Bei der Antwort hilft uns das Begriffspaar «offene Gesellschaft» – «geschlossene Gesellschaft» aus der Gesellschaftstheorie des Philosophen Karl Popper. Die geschlossene Gesellschaft schließt sich nach außen ab, lässt keine Berührung mit fremden Kulturen zu und ist auf strenge, autoritäre Reglementierung aller Lebensbereiche bedacht. Die offene Gesellschaft dagegen ist anderen Kulturen gegenüber aufgeschlossen; auch lässt sie ihren Mitgliedern Spielräume für individuelle Entfaltung. Josef ist ein Mann der offenen Gesellschaft, der als Gouverneur segensreich in einem fremden Land – in Ägypten – wirkt. Als Vertreter des geschlossenen Gesellschaftstyps verlässt Mose Ägypten und besteht darauf, die Israeliten von allen Völkern zu trennen. Mose beharrt auf Separatismus, Gesetz und priesterlicher Religion in einer öden Wüstenlandschaft, wo das Leben auf das Wesentliche beschränkt bleibt. Josef steht für Offenheit, Versöhnung, Freundschaft und großzügige Philanthropie in einem Land, das für grüne Weiden, fette Kühe, Wasserreichtum, Fische und legendäre Ernteerträge berühmt war. Ägypten galt als Land, wo Menschen an Fleischtöpfen sitzen und sich satt essen. Statt von einem Exodus aus Ägypten berichtet die Josefsgeschichte von einem umgekehrten Auszug – aus Palästina nach Ägypten.
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Das salomonische Urteil.
Wem gehört der Säugling? Zwei Frauen streiten sich vor dem Richter um ein Kleinkind. Ein behelmter Soldat ist im Begriff, das Kind mit einem Beil zu zerteilen. Von den zwei Frauen steht die eine neben dem Hackblock, bereit, ihre Hälfte in Empfang zu nehmen. Die andere kniet bittend vor dem König, der auf der Tribüne thront, angetan mit langem Gewand und Turban. Der antike Künstler hält den dramatischen Höhepunkt der Erzählung fest. Ist das Fresko die älteste bildliche Darstellung einer biblischen Szene – der Szene von König Salomos Urteil (1 Könige 3)? Oder soll der ägyptische König Bokchoris dargestellt werden, von dem man dieselbe Anekdote berichtet? – Fresko aus Pompeji (vor 79 n. Chr.), Museo Archeologico, Neapel.
Mose und Josef sind alternative Gründergestalten des Judentums.Mit Mose verbinden sich tragische Züge: Durch Mose wird dem Volk ein Gesetz gegeben, dessen Forderungen es nicht gerecht werden kann und an denen es scheitern wird. Auf dem Geschehen lastet Schwere und Tragik. Statt tragischer Weltsicht herrscht in der Josefsnovelle eine positive Weltsicht: Letztlich ist die Welt gut, vermag sie doch selbst dem entwurzelten Menschen nach mancher Verwicklung eine Heimat zu bieten. Verfeindete Brüder können einander vergeben und sich versöhnen. Die Bibel drängt dem Leser keine Entscheidung zwischen dem Ethos der Verantwortung und dem Ethos des Gehorsams auf. Sie lässt Josef neben Mose stehen.
86. Woher kommt die Geschichte vom Urteil Salomos? Zwei Dirnen leben im selben Haus. Beide haben gerade einen Knaben geboren. Als die eine nachts erwacht, findet sie zu ihrem Schrecken ihr Kind tot. Rasch tauscht
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