Die 101 wichtigsten Fragen - Rassismus
hat.
Was war 1904–08 geschehen? Kurz nach der blutigen Niederschlagung des Wahehe-Aufstands gegen die deutsche Kolonialregierung im heutigen Tansania und kurz vor Ausbruch des Maji-Maji-Aufstandes in Deutsch-Ostafrika erklärte Herero-Führer Samuel Maharero 1904 den deutschen Aggressoren den Krieg. Mit der Schlacht am Waterberg unter General Lothar von Trotha wurde dieser Aufstand mit einen deutschen Vernichtungsfeldzug beantwortet. Trotha ließ zehntausende Herero in die wasserlose Omaheke-Wüste treiben und verdursten. Am 2. Oktober 1904 verfasste er schließlich einen Schießbefehl: «Ich, der große General der deutschen Soldaten, sende diesen Brief an das Volk der Herero … Das Volk der Herero muß jetzt das Land verlassen. Wenn das Volk dies nicht tut, so werde ich mit dem großen Rohr es dazu zwingen. Innerhalb der deutschen Grenze wird jeder Herero, mit oder ohne Gewehr, mit oder ohne Vieh, erschossen.» Trotz einiger Proteste aus der deutschen Politik (vor allemaus sozialdemokratischen Kreisen) machte von Trotha seinen Plan wahr. Bei diesem Genozid sind rund 80 Prozent der 80.000 Herero und zehn Prozent der 20.000 Nama, die sich dem Aufstand angeschlossen hatten, ermordet worden. Überlebende Herero und Nama wurden in Konzentrationslager gebracht und starben dort an Seuchen, Unterernährung und den Folgen der Zwangsarbeit. Während Tausende Totenschädel zu «wissenschaftlichen Untersuchungen» nach Deutschland gebracht wurden, siedelten sich
weiße
Deutsche auf dem gewaltvoll angeeigneten Land an.
Am 14. August 2004 kam es unter der Schröder-Regierung zu einer ersten symbolischen Verantwortungsübernahme. Bei einer Gedenkfeier in Namibia 100 Jahre nach Beginn des Völkermords sprach die damalige Bundesministerin für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung Heidemarie Wieczorek-Zeul vom «Vernichtungskrieg» und sagte, dass die «damaligen Gräueltaten» das waren, «was heute als Völkermord bezeichnet würde». Nur ein Fast-Völkermord kam ihr über die Lippen, und auch nur eine Beinahe-Entschuldigung, denn sie bat um Versöhnung statt um Entschuldigung. Das war eine politische Grundsatzentscheidung, weil das Wort Entschuldigung juristisch das Einklagen von Entschädigungszahlungen hätte nach sich ziehen können.
Mittlerweile finanziert die DFG die Forschungsgruppe «Human Remains Projects» der Berliner Charité, die sich der Aufarbeitung der eigenen Geschichte der anthropologischen Skelettsammlung mit etwa 7000 Schädeln widmet und es sich zum Ziel gesetzt hat, so viele Schädel wie möglich Namen zuzuordnen, damit die sterblichen Überreste von den Hinterbliebenen würdig beerdigt werden können. In diesem Zusammenhang hat sich die Bundesregierung bereit erklärt, in einem symbolischen Staatsakt am 30. September 2011 20 Schädel von Opfern des deutschen Genozids in Namibia zurückzugeben. 60 Delegierte aus Namibia waren gekommen. Cornelia Pieper, Staatsministerin im Auswärtigen Amt, war die höchste Repräsentantin, die Deutschland an diesem Tag entbehren konnte. Ihre Rede entsetzte viele der Zuhörer_innen im überfüllten Hörsaal der Charité, lautstarker Protest erhob sich. Deutschland kenne seine «historische und moralische Verantwortung», so Pieper. Sie betonte die «Sonderbeziehung» zwischen Namibia und Deutschland, die sie darin sieht, dass die Deutschen die «größte Gruppe von Touristen in Namibia stellen». Was für ein Faupax angesichts der 20 Gebeine, dieneben ihr standen, und der Tatsache, dass es den meisten Namibier_innen weder finanziell noch visatechnisch möglich ist, Deutschland zu bereisen. Pieper verließ undiplomatisch sofort nach ihrer Rede den Hörsaal – ohne sich auch nur eine Rede eines Vertreters der namibischen Regierungsdelegation anzuhören.
Die Oppositionsparteien beantragten am 22. März 2012 die Einrichtung einer deutsch-namibischen Parlamentariergruppe; die Einsetzung einer Enquete-Kommission ist überfällig. Wenn das an den Herero und Nama verübte Verbrechen als Völkermord bezeichnet wird, wird die Shoah keineswegs verleugnet oder relativiert, wohl aber der Verleugnung des Völkermordes an den Herero ein Ende bereitet.
82. Sind Entschädigungsforderungen für Sklaverei und Kolonialismus gerechtfertigt? Aimé Césaire (1913–2008) beschreibt in seinem berühmten Buch
Über den Kolonialismus
(1950), wie die kolonisierten Gesellschaften «um sich selbst gebracht wurden»: «Ich … spreche von zertretenen Kulturen, von ausgehöhlten
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