Die 101 wichtigsten Fragen - Rassismus
Unrechtbewusstseins zu entledigen und die eigenen kolonialen Verbrechen auf Afrika zu projizieren. Zum anderen geht es Fanon darum, nachzuzeichnen, wie der Rassismus auch Selbstwahrnehmungen von Schwarzen nachhaltig beeinflusst und dabei zu ernsthaften mentalen Deformationen führen kann. Als Opfer eines institutionalisierten und strukturell sanktionierten Rassismus verinnerlichen Schwarze den Mythos von ihrer eigenen Minderwertigkeit, die dann in einer traumatisierenden Selbstverleugnung ausgelebt wird.
1953 übernahm Fanon den Posten eines Chefarztes der psychiatrischen Klinik Blida, südlich von Algier. Aus Protest gegen die brutale französische Niederschlagung des algerischen Aufstands legte er 1954 seinen Posten nieder und siedelte nach Tunis über, dem Sitz der provisorischen algerischen Regierung.
Als Kwame Nkrumah 1958 Ghanas Unabhängigkeit ausrief, ging Fanon als Vertreter der algerischen Exilregierung nach Accra. Dort studierte er den ghanaischen Weg in die Unabhängigkeit. Sein zweites Buch
L’an V de la révolution algérienne
(1959) klagt Frankreich des Massenmordes an der algerischen Bevölkerung an und entwirft die Utopie eines freien Algeriens, in dem alle gleichberechtigt miteinander leben können. Das Verbot des Buches in Frankreich beförderte Fanons Popularität in der kolonialen Welt immens. Als 1960 Ärzte bei ihm eine unheilbare Form von Leukämie diagnostizierten, schrieb er sein politisches Vermächtnis:
Les damnés de la terre.
Das Buch analysiert die manichäische Ideologie des Kolonialismus, die den Kolonisierten als Quintessenz des Bösen und als Abwesenheit von Geschichte, Ethik und allem Menschlichen konstruierte. DreiTage vor seinem Tod am 6. Dezember 1961 hielt er sein gedrucktes Buch in den eigenen Händen.
Frantz Fanon ist eine Ikone der antikolonialen Widerstandsbewegung und einer der wichtigsten Vordenker jeder Rassismusanalyse. Seine Werke sind auf Deutsch, sofern überhaupt verfügbar, nur in schlechten, der rassistisch-kolonialen Sprache verbundenen Übersetzungen erhältlich.
84. Wie spreche ich über Rassismus, ohne ihn sprachlich zu reproduzieren? Rassismus ist wortgewaltig und übt Gewalt über Worte aus.
In vielen Kontexten ist es sehr einfach, auf rassistische Vokabeln zu verzichten. So ist es etwa ein kleiner und doch entscheidender Unterschied, ob ich konstatiere «Kein Mensch sollte wegen seiner Rasse diskriminiert werden» oder aber sage: «Kein Mensch sollte rassistisch diskriminiert werden.» Ich kann konsequent von Rassismus gegen Schwarze oder von People of Color (statt die ganze Palette von «N-Wörtern» und «M-Wörtern» aufzurufen) sprechen; so wie ich nicht vom Stamm der Franzosen spreche, rede ich auch nicht vom Stamm der Apachen, sondern einfach von Apachen – alternativ ginge auch die Gesellschaft der Apachen, aber nur in einem Kontext, in dem es analog auch Sinn machen würde, von der Gesellschaft der Franzosen zu sprechen. Eigentlich würde es hier «französische Gesellschaft» heißen und ich müsste analog von der appachischen Gesellschaft sprechen. Tue ich dies, irritiere ich meine Zuhörer_innen. Eine solche Irritation ist eine produktive Strategie, um Auseinandersetzungen mit Rassismus in Gang zu setzen.
Es gibt Zusammenhänge, in denen es schwierig ist, rassistische Worte zu vermeiden. Bei einigen haben sich Formulierungen etabliert, die das rassistische Wort andeuten, um es zugleich zu brechen. Dazu gehört das «N-Wort». In seinem Original-Wort steckt so viel Hass, Gewalt und Terror, dass es auch dann mitten in die Seele sticht, wenn es nur zu dem alleinigen Zweck ausgesprochen wird, es harscher Kritik zu unterziehen. Es gibt viele solcher Worte.
Was aber, wenn solche Abkürzungen noch gar nicht etabliert sind, ich aber nicht umhin komme klarzustellen, wovon ich spreche? Ich bin in wissenschaftlichen Artikeln dazu übergegangen, das Wort im Haupttext abzukürzen, etwa als «M-Wort» oder «Zi.», um in einer Fußnote das Wort einmal auszuschreiben. So gebe ich den Leser_innendie Möglichkeit, sich diese Information einzuholen – oder sie sich zu ersparen. Dieses Verfahren wende ich auch bei Vorträgen an. Ich habe gefaltete Handouts verteilt und die verwendeten rassistischen Wörter durchnummeriert. Dann konnte ich im Vortrag sagen, im Folgenden geht es um Wort Nummer 1 etc. und die Zuhörer_innen konnten selbst entscheiden, ob sie sich das Wort aus dem Kontext erschließen oder sich durch die Lektüre des rassistischen Wortes
Weitere Kostenlose Bücher