Die 13 1/2 Leben des Käptn Blaubär
der wirklich wichtigen Güter im Tornado wie Kaffee, Brot und Tabak, denn es war üblich, ein Gastgeschenk mit einem Gegengeschenk zu beantworten. Beliebter wurde ich durch meine Besuche allerdings nicht. Nachdem ich den ganzen Ballast abgeworfen hatte, konzentrierte ich mich auf die Flucht.
Jeden Tag suchte ich den Tornado nach Fluchtmöglichkeiten ab. Ich fahndete nach Rissen und Spalten, durch die man sich zwängen könnte. Ich schnüffelte sogar nach Dimensionslöchern.
Es war mir egal, wieviel länger ich im Tornado leben würde, ich war einfach nicht dafür geschaffen, mich auf ewig an ein und demselben Ort aufzuhalten (auch wenn dieser Ort selbst ganz schön weit herumkam!). Ich wollte noch einmal den Himmel sehen und das große Meer. Ich wollte frische Luft atmen und kilometerweit über das Land blicken. Wenn es einen Weg hinein gibt, gibt es auch einen Weg hinaus, das war die Lektion, die ich im Stollenlabyrinth der Finsterberge gelernt hatte.
Ich kroch in jeden Winkel der Tornadostadt auf der Suche nach Schlupflöchern, Notausgängen oder geheimen Falltüren. Ich klopfte jede Wand ab, wühlte in der Müllhalde wie ein Maulwurf und ging im Kopf die abenteuerlichsten Fluchtmöglichkeiten durch, etwa in einem selbstgebauten Fesselballon, mit einem Fallschirm aus zusammengenähten Unterhosen oder in einem selbstgebastelten Hubschrauber aus Kanu-Paddeln.
Aber der Tornado schien ausbruchssicher wie ein Hochsicherheitsgefängnis. Man wußte nicht, was passierte, wenn man sich durch die Tornadowand wühlte, wahrscheinlich alterte man noch mehr, dieses Risiko war einfach zu groß. Durch die Öffnung regneten ständig irgendwelche schweren Gegenstände, was die Flucht mit einem Flugapparat viel zu riskant machte.
Ich fing an, die Männer auszuquetschen. Mit der Zeit stellte sich heraus, daß fast jeder von ihnen mit einem Fluchtplan geliebäugelt hatte. Sie erzählten mir von Fluchttunneln, die sich sekundenschnell wieder mit Tornadogeröll gefüllt hatten, Abstürzen mit Flugmaschinen, von kühnen Träumen und zerstörten Hoffnungen. Mit der Zeit mußte ich begreifen, daß jeder meiner Fluchtpläne schon einmal ausprobiert worden und gescheitert war. Es gab nur einen Weg aus dem Tornado, den direkt durch die Wand. Und das hatte sich noch niemand getraut.
»Doch«, sagte Balduan. »Einer hat es versucht.«
»Es hat einen echten Fluchtversuch gegeben?« fragte ich aufgeregt. »Wer war das?«
»Phonzotar Hueso, der Besitzer des Postamtes.«
Ich kannte das verfallene Gebäude am Fuß der Tornadotreppe, an dem ein Schild hing, auf dem POSTAMT stand, aber ich hatte es immer für einen Scherz gehalten, den sich die Tornadobewohner mit sich selbst erlaubt hatten. Was für einen Sinn machte ein Postamt in einem Tornado?
»In dem Haus wohnt wirklich jemand?«
»Er geht selten vor die Tür. Besuch ihn doch einfach mal. Er freut sich immer über ein bißchen Gesellschaft.« Balduan wandte den Kopf zur Seite, so daß ich nicht sehen konnte, ob das Geräusch, das er jetzt machte, ein Husten oder ein Prusten war.
Am nächsten Tag stattete ich dem Postamt einen Besuch ab. Im Gebäude war es düster und unordentlich. An den Wänden standen hohe Regale, alle gefüllt mit staubbedeckten leeren Flaschen. In den Ecken stapelten sich hohe Stöße von vergilbtem Papier. Im Dunkel saß an einem von Papierbergen bedeckten Tisch Phonzotar Hueso und kritzelte vor sich hin.
»Entschuldigen Sie ... ist das hier die Hauptpost?« erkundigte ich mich vorsichtig.
»Nein, das ist eine Bäckerei!« blaffte der alte Mann, ohne mich anzusehen. Er kritzelte weiter, nahm dann das Papier und steckte es in eine Flasche.
»Verzeihung ... ich wollte ja nur wissen, wie das hiesige Postsystem funktioniert ... muß eine ausgetüftelte Sache sein ...«
Anscheinend hatte ich den richtigen Ton getroffen, denn er wurde jetzt etwas weniger schroff.
»Ist ganz einfach«, krächzte er. »Man steckt die Flaschenpost von innen in die Tornadowand, dann wird sie rausbefördert. Eingehende Post fällt von oben in den Tornado.
Braucht man nur aufzusammeln.«
»Es gibt eingehende Post?«
»Bis jetzt noch nicht! Müßte aber stündlich eintreffen.« »Äh ... wie lange warten Sie denn schon darau?«
Phonzotar kratzte sich am Kopf. Es sah aus, als blickte er über eine weite Landschaft und versuchte, etwas am Horizont zu erkennen.
»Aaah ... zweihundert Jahre? Dreihundert? Den wievielten haben wir denn heute?«
Ich versuchte es mit einem anderen Thema:
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