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Die 13 1/2 Leben des Käptn Blaubär

Die 13 1/2 Leben des Käptn Blaubär

Titel: Die 13 1/2 Leben des Käptn Blaubär Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Walter Moehrs
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nicht ganz sehen, nur eines ihrer acht Augen, das durch die Blätter lugte, wahrscheinlich um auszuspähen, was da in ihrem Netz zappelte. Dann quetschte sie ihren Oberkörper durch die Baumkronen. Eitergelber Speichel lief aus einer Öffnung, die wohl eins ihrer Mäuler war, wahrscheinlich war es das tödliche Sekret, das mich zersetzen sollte. Ich hörte jetzt zum ersten Mal die Stimme der Waldspinnenhexe, ein hoffnungraubendes Geräusch, wie von sämtlichen gefährlichen Vertretern des Tierreichs zugleich, das bedrohliche Grollen eines Tigers war darin, das giftige Zischen einer Kobra, das höhnische Krächzen des Geiers, das gierige Schlürfen der Fledermaus, das heisere Lachen der Hyäne: Sie jagte mir einen Schauer über den Rücken und die Angsttränen in die Augen.
    Ich fing an zu weinen - nicht aus Berechnung, nicht aus künstlicher Trauer, sondern aus echter, verzweifelter Todesangst! In zwei dünnen festen Strahlen schoß das Wasser aus meinen Augen, und ich hatte gerade noch Geistesgegenwart genug, die Strahlen auf meine festgeklebten Hände zu lenken. Aber ich muß wohl vor lauter Angst geschielt haben, oder mein Körper schüttelte sich zu sehr unter meinem Weinkrampf - der Strahl ging jedenfalls komplett daneben, um gute zehn Zentimeter.
    Es gibt Augenblicke im Leben, in denen man überzeugt ist, daß sich das gesamte Universum in irgendeinem schummrigen Hinterzimmer getroffen und beschlossen hat, sich gegen einen zu verschwören. Dieser Augenblick war so einer. Es gibt aber auch Momente, die einem den Glauben an das Glück wiedergeben. Die zwei bis drei Sekunden, in denen meine Tränen, die an ihrem Ziel vorbeigeschossen waren, von der Blüte einer Feuerlilie abprallten, geschlossen nach oben katapultiert wurden, gegen den dünnen Ast einer Birke schlugen, der dadurch den eingeklemmten Pflanzenarm eines Farns freigab, welcher wiederum in die Höhe schoß und von unten gegen das Dach aus Kastanienblättern schlug, die über und über mit Regentropfen des vergangenen Finsterberggewitters bedeckt waren und dadurch über mir abregneten wie eine kalte Morgendusche - das war sicher einer von diesen besseren Momenten. Es war nämlich der Augenblick, in dem sich meine Hände vom Spinnennetz lösten, und das Startsignal fiel zum Marathonrennen vom Großen Wald.

    Das Marathonrennen vom Großen Wald

    Eigentlich war ich noch nie in meinem Leben gerannt. Auf dem Zwergpiratenschiff war zu wenig Platz, auf der Klabauterinsel lagen zu viele umgestürzte Baumstämme, auf meinem Floß ging es schon gar nicht, auf der Gourmetica ging ich höchstens mal gemächlich spazieren (zum Schluß auf allen vieren), während der Zeit mit Mac waren wir ständig in der Luft, und in der Nachtschule gab es keinen Sportunterricht.
    Es war also das erste Mal in meinem Leben, daß ich rennen mußte, und - keine halben Sachen! - es ging auch gleich um mein Leben. Ich stellte mich auf ein langes Rennen ein: Sieger würde der mit den schnelleren Beinen oder dem größeren Durchhaltevermögen. Ich wußte auch, daß die Chancen nicht gerade gleichmäßig verteilt waren. Ich hatte zwei kurze, relativ untrainierte Beine, ich war ein Bär, keine Antilope. Die Spinne dagegen hatte sehr lange Beine, und sie hatte gleich acht Stück davon.
    Also lief ich los, schnell genug, um einen gesunden Vorsprung vor der Spinne zu haben, aber auch nicht zu flott, um nicht so bald außer Puste zu kommen. Mein entscheidender Vorteil war meine Größe, denn ich konnte zwischen den Bäumen und unter den Ästen hindurchschlüpfen, während die Spinne sich mühsam ihren Weg durch das Geäst bahnen mußte, indem sie alles niedertrampelte oder zur Seite riß, was sich ihr in den Weg stellte: ganze Baumkronen, Astgabelungen, eng stehende Baumstämme. Die Kraft der Spinne war enorm, allein mit ihrem Körpergewicht konnte sie eine ausgewachsene Fichte zur Seite drücken wie ein Schilfrohr. Doch war ihr Lauf andauernd gehemmt, sie mußte sich quer durch den Wald rempeln, während ich freie Bahn hatte. Auf freiem Feld hätte die Sache anders ausgesehen, dort hätten ihre langen Beine das Rennen schnell entschieden.
    Das Geheimnis beim Laufen ist das Atmen. Einatmen, Doppelschritt, ausatmen, Doppelschritt. Die Arme leicht angewinkelt, die Fäuste vor der Brust und immer zuerst mit dem hinteren Fußballen aufkommen und dann nach vorne abrollen. Die erste Stunde war ganz einfach. Ich lief federnd und gleichmäßig meinen Baumparcours, die Kraft der Jugend in den Schenkeln

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