Die 13. Stunde
Fremder kam herein, als gehöre ihm der Raum. Der Mann war groß und gepflegt und verbreitete eine Aura der Gelassenheit und Ruhe, die einen Teil des Schreckens verdrängte, der Nick in den letzten Stunden erfüllt hatte. Das dunkle Haar des Fremden war graumeliert, die Schläfen schimmerten silbern, und seine Augen blickten scharf und konzentriert. Das Leben hatte sein Gesicht gezeichnet und tiefe Furchen in die gebräunte Haut gegraben. Der Mann trug einen blauen Blazer, eine Leinenhose mit scharfer Bügelfalte und eine gelbe Seidenkrawatte auf einem blassblauen Oberhemd – eine Kleidung, die Kultur, Geschmack und Wohlstand verriet. Er roch sogar reich.
»Man hat Ihnen bereits die meisten Dinge abgenommen, habe ich recht?«, fragte der Mann mit tiefer, europäisch gefärbter Stimme. Er zog sich einen Metallstuhl heran und setzte sich Nick gegenüber an den Tisch.
Nick musterte den Fremden verwirrt.
»Ihre Brieftasche, Ihre Schlüssel, Ihr Handy, sogar Ihre Uhr«, sagte der Mann mit einem Blick auf den blassen Streifen an Nicks bloßem Handgelenk. »Man beraubt Sie nach und nach Ihrer Identität. Irgendwann nimmt man Ihnen Ihr Herz, zum Schluss die Seele, wenn Sie nicht genau das sagen, was man von Ihnen hören will.«
»Wer sind Sie?«, fragte Nick. Es waren die ersten Worte, die er innerhalb dieser Wände sprach. »Hat Mitch Sie geschickt?«
»Nein«, sagte der Mann, schaute sich um und richtete den Blick dann wieder auf Nick. »Angesichts der Beweise, die gegen Sie sprechen – was wollen Sie da mit einem Anwalt? Er verlangt sechshundert Dollar die Stunde, stellt Ihnen eine unverschämte Rechnung aus und gibt Ihnen sogar noch das Gefühl, Sie wären ihm etwas schuldig, wenn Sie in Ihrer Zelle fünfundzwanzig Jahre bis lebenslänglich absitzen, weil der Kerl den Prozess verloren hat.«
Nick blickte den Mann verwirrt an. »Mitch ist unterwegs. Mit Ihnen habe ich nichts zu bereden.«
Der Mann nickte. Er blieb völlig gelassen, als er die Arme auf den Tisch legte und sich vorbeugte.
»Ich kann mir vorstellen, wie Sie sich fühlen. Es ist schändlich, dass man Ihnen nicht mal einen Augenblick der Trauer erlaubt hat.« Der Mann hielt inne. »Sagen Sie, seit wann geht es bei der Gerechtigkeit um Gewinnen und Verlieren? Seit wann herrscht diese Wir-gegen-die-Mentalität, wo man doch eigentlich bemüht sein sollte, die Wahrheit aufzudecken?«
Nick musterte den Mann fragend.
»Haben Sie die Akte gesehen, die man über Sie angelegt hat, Mr. Quinn? Sie ist sehr detailliert. Ich bezweifle, dass man Ihnen für ein Geständnis auch nur einen Tag Strafnachlass anbieten wird.«
»Ich habe meine Frau nicht ermordet!«, stieß Nick hervor.
» Ich weiß das, aber die Polizei sieht es anders. Sie sieht nur das Motiv und die Tatwaffe.« Der Mann warf einen Blick auf den Revolver, der auf dem Tisch lag. »Die Detectives hoffen auf Ihr Geständnis, weil es ihnen eine Menge Papierkram ersparen würde.«
»Woher wollen Sie das alles wissen?«
»Man wird Sie zwölf Stunden lang bearbeiten, wird Sie zermürben, bis Sie gestehen. Warum? Weil man sich damit wochenlange Besprechungen mit dem Staatsanwalt und monatelange Prozessvorbereitungen erspart. Man wird Sie verurteilen, und Sie verbringen den Rest Ihres Lebens hinter Gittern, betrauern den Tod Ihrer Frau und werden sich bis ans Ende aller Tage fragen, was denn nun wirklich passiert ist.«
»Wenn Sie kein Anwalt sind, weshalb sind Sie dann hier?«
Der Blick aus den freundlichen, warmen Augen des Mannes blieb auf Nick gerichtet, als er nun tief Luft holte und entgegnete: »Noch können Sie sie retten.«
Nick starrte den Mann an. »Was meinen Sie damit?«
»Wenn Sie hier raus könnten, würden Sie gehen, nicht wahr?«
»Natürlich.«
»Und wenn Sie Ihre Frau retten könnten, würden Sie es tun?«
»Was soll die dumme Frage? Meine Frau ist tot«, erwiderte Nick.
»Sind Sie sicher?« Der Mann blickte ihm fest in die Augen. »Die Dinge sind nicht immer so, wie sie zu sein scheinen.«
»Wollen Sie damit sagen, mein Frau lebt noch? Das kann nicht sein! Ich habe gesehen, wie sie …« Nick versagte die Stimme.
Der Mann griff in die Innentasche seines Blazers und zog einen verschlossenen Briefumschlag hervor, den er Nick über den Tisch zuschob.
Nick blickte zum Zweiwegespiegel.
»Keine Sorge«, sagte der Mann lächelnd, »niemand schaut uns zu.«
»Woher wollen Sie das wissen?«
»Die Polizei hat mit dem Flugzeugabsturz mehr als genug zu tun. Zweihundertzwölf Tote.
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