Die 13. Stunde
tatsächlich gehabt hatte: Sie war nicht als Einzige dem Tod entkommen. Julia legte eine Hand auf ihren Leib in dem Bewusstsein, dass an diesem Tag zwei Leben gerettet worden waren.
Die Ironie bestand darin, dass sie nicht wegen einer Besprechung ins Flugzeug nach Boston gestiegen war, wie sie behauptet hatte, sondern um ihren Arzt aufzusuchen.
Ein Jahr nach ihrer Heirat hatten Nick und sie in Winthrop, Massachusetts gelebt. Nick war dorthin versetzt worden, und Julia war ihm gefolgt und hatte einen Job bei einer kleinen Bostoner Kanzlei gefunden. Eine Kollegin hatte ihr Dr. Colverhome empfohlen, einen Frauenarzt, der einen erstklassigen Ruf genoss.
Nach ihrer Rückkehr nach Byram Hills hatte Julia den Arzt nicht gewechselt, denn es war kein Problem, ihre jährliche Untersuchung mit einer Geschäftsreise zu verbinden.
In dieser Woche hatte sie Colverhome angerufen und ihm ihren Verdacht mitgeteilt. Daraufhin hatte der Arzt dafür gesorgt, dass ein ortsansässiger Mediziner bei Julia einen Schwangerschaftstest vornahm. Der Test war positiv ausgefallen – sie war in der sechsten Woche. Julia erfüllte diese Nachricht mit einem Hochgefühl, wie sie es noch nie erlebt hatte. Sie brannte darauf, es Nick zu sagen, wollte aber etwas Besonderes daraus machen. Deshalb hatte sie mit Dr. Colverhome einen Termin für eine pränatale Untersuchung vereinbart, bei der sie ein Ultraschallbild ihres Kindes erhalten würde. Julia wollte das Bild rahmen und Nick bei einem romantischen Abendessen im La Crémaillère damit überraschen. In diesem Restaurant hatte er damals um ihre Hand angehalten; es war der Beginn ihres gemeinsamen Lebens gewesen, und Julia wollte die gleiche Umgebung und die gleiche feierliche Atmosphäre wie damals, um Nick die erfreuliche und unerwartete Neuigkeit mitzuteilen.
Bei ihrem Streit am Morgen war es um ein Abendessen gegangen, das nie stattfinden würde. Sie hatte nie die Absicht gehabt, mit den Millers essen zu gehen. Ihr ging es nur um die Gelegenheit, Nick mit der Nachricht von ihrer Schwangerschaft zu überraschen. Es würde einer der schönsten Augenblicke in ihrer beider Leben werden.
Eigentlich hatte Julia erst in ein paar Jahren eine Schwangerschaft eingeplant. Ihr Leben war so sehr von ihren beruflichen Aufgaben bestimmt, dass der Gedanke an Kinder ihr fern gewesen war. Nun aber begriff sie, dass sie so viel Zeit auf ihre Karriere verwendet hatte, dass die Vorstellung, ein Kind zu bekommen, beinahe zu etwas Fremdem geworden war. Julia war so sehr von ihrer Karriere als Anwältin vereinnahmt gewesen, dass sie viele Freundinnen aus den Augen verloren hatte, die ihre beruflichen Ambitionen zurückgestellt hatten und Mütter geworden waren.
Sie hatte mit Nick nun ihr halbes Leben verbracht. Sie beide besaßen mehr Geld, als sie brauchten, hatten ein schönes Haus, waren viel gereist und hatten das Leben genossen.
Dennoch gab es eine Leere, die sich besonders an Festtagen schmerzhaft bemerkbar machte: Julia sehnte sich nach der Rückkehr des Weihnachtsmanns und des Osterhasen, der Zahnfee und der Halloween-Süßigkeiten. Sie sehnte sich nach einem Kind.
Als sie an den Flugzeugabsturz dachte, an die vielen Leben, die geendet hatten, an die nette ältere Dame, die neben ihr gesessen hatte, traten ihr Tränen in die Augen. Eine automatische SMS hatte sie aus dem Flugzeug geholt und ihr das Leben gerettet – die Textnachricht, dass in Shamus Hennicots Villa eingebrochen worden sei. Dieser Nachricht hatte Julia es zu verdanken, dass sie weiterlebte. Doch nicht nur ihr Leben war gerettet worden, sondern auch das ihres ungeborenen Kindes. Sie betrachtete es als ein Zeichen, dass dieses Kind zur Welt kommen sollte. Soweit es Julia betraf, war ein Wunder geschehen.
Anfänglich verärgert, weil sie es für einen Fehlalarm hielt, war sie aus dem Flugzeug gestiegen und hatte sich hinter das Steuer ihres Wagens gesetzt. Als sie Washington House erreichte, ging sie das Grundstück ab, überprüfte sämtliche Türen und Fenster und fand alle verriegelt vor.
Doch kaum hatte sie das Haus betreten, wusste sie, dass etwas nicht stimmte. Keine dreißig Sekunden, nachdem sie die Schwelle überschritten hatte, erschütterte ein Stoß das Haus. Das Porzellan in den Schränken und die Gläser in der Bar klirrten, als hätte es ein Erdbeben gegeben. Doch in New York sind Erdbeben so selten wie Schnee auf den Bermudas. Die Lichter flackerten ein paar Sekunden und erloschen. Augenblicke später schaltete sich
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