Die 13. Stunde
die Notbeleuchtung ein und erhellte Treppen und Ausgänge. Rhythmisches Piepen von den USVs der Computer wiesen auf den Stromausfall und die bevorstehende Notabschaltung hin.
Julia schaute auf die Uhr: sechs Minuten vor zwölf. Sie hätte nach Boston unterwegs sein sollen, statt in einem leeren Haus zu stehen, in dem wegen eines Erdstoßes der Strom ausgefallen war.
Julia ging zur Küche, zog die Codekarte über das Lesegerät, von dem sie wusste, dass es eine Notstromversorgung besaß, die vierundzwanzig Stunden vorhielt, und öffnete die schwere Brandschutztür des Untergeschosses. Im grellen Halogennotlicht stieg sie die Treppe hinunter, geblendet vom Glanz der teuren Lilientapetete, die Hennicot aus Paris hatte kommen lassen. Julia gab ihre Sozialversicherungsnummer in das Tastenfeld ein und zog dreimal die Magnetkarte über das Lesegerät. Dann nahm sie den achteckigen Sicherheitsschlüssel und schob ihn mit dem D nach oben in die Tresortür aus gebürstetem Stahl.
Mit einer kräftigen Drehung öffnete Julia die Tür und wurde von Dunkelheit umfangen. Sie zog einen Stuhl heran und verstellte damit die Tür, sodass das helle Licht aus dem Gang in den Raum fiel.
Ihr Blick fiel sofort auf die zerstörten Ausstellungskästen in der Mitte des Raums und auf den Kasten mit der roten Halbkugel, der nicht hierher gehörte. Zorn loderte in ihr auf. Sie ging weiter, öffnete Türen und steckte den Kopf in die Räumlichkeiten dahinter. Im klimatisierten Lagerraum brannte ein Notlicht, doch es sah nicht so aus, als wäre eine der Kisten geöffnet worden.
Julia kehrte in den Hauptraum und zu dem Licht zurück, das vom Treppenhaus hereinfiel, und öffnete die Tür zu Hennicots Büro. Sie bog nach rechts ab, ging zu einer Tür, die in der Vertäfelung verborgen war und sah, dass die Tür einen Spalt weit offen stand. Julia drückte sie auf.
Im Raum war es fast völlig dunkel. Im Vorraum tanzten schwache Lichtreflexe, die aber nicht hell genug waren, dass man deutlich sehen konnte.
Doch Julia wusste auch so, was in der Mitte dieses Raumes stand. Sie machte zwei vorsichtige Schritte, wobei sie versuchte, sich an die Dunkelheit zu gewöhnen, und ertastete die beiden Safes. Mit der Hand fuhr sie über den ersten und stellte fest, dass er geschlossen war. Der zweite Safe jedoch … Julia verschwendete keine Zeit mit weiterem Abtasten. Ihre Augen hatten sich inzwischen gut genug an das Dämmerlicht gewöhnt, dass sie die Umrisse der massigen, offen stehenden Tür ausmachen konnte.
Mit einem Mal überfiel sie eisige Furcht.
Sie hatte das Haus betreten und war sofort ins Kellergeschoss gegangen, um sich zu vergewissern, dass tatsächlich ein Einbruch verübt worden war. Dabei hatte ihr Zorn sie blind gemacht für die Gefahr, in die sie sich begab, wenn sie in der Finsternis umherirrte und leichtsinnig das Schicksal herausforderte. Julia hatte nie unter Klaustrophobie gelitten, doch nun spürte sie, wie die Schwärze sich um sie herum zusammenzog. Sie wusste nicht, ob außer ihr noch jemand im Raum war oder ob sich jemand hinter einer Tür versteckte, horchend, lauernd wie ein Raubtier und bereit, sie zu töten, um sich selbst die Flucht zu ermöglichen.
Doch heute war kein Tag zum Sterben.
Julia stürmte aus dem Raum und die Treppe hinauf. Mit dem achteckigen Schlüssel öffnete sie die versteckte Sicherheitskammer hinter der Scheinwand in der Küche. Ihr Blick fiel sofort auf die zerstörten Server: Die Festplatten waren herausgerissen. Wer immer dafür verantwortlich war, wusste genau, was er tat und wie er seine Spuren zu verwischen hatte.
Julia war froh, ein zweites Back-up in ihrem Büro zu haben, das nicht nur auf ihrem Arbeitscomputer, sondern auch auf dem Server der Kanzlei lag. Die unbekannten Täter würden niemals daran denken, dort nachzusehen.
Als Julia aus der Sicherheitskammer in die Küche zurückkehrte, verebbte ihre Furcht allmählich. Wer immer diesen Einbruch begangen hatte, war längst verschwunden. Dieser Coup war bis ins Kleinste geplant und wahrscheinlich binnen Minuten durchgezogen worden, ohne dass es Spuren gab.
Julia nahm eine Taschenlampe vom Regal in der Küche und holte eine Digitalkamera aus ihrem Auto. Dann ging sie wieder in den Keller, machte eine erste Bestandsaufnahme aller gestohlenen Gegenstände und fotografierte den aufgeschnittenen Schaukasten sowie den offenen Safe. Der Einbruch hatte seine Besonderheiten: Der Lagerraum war überraschenderweise nicht angerührt worden, obwohl die
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