Die 13. Stunde
dem Steuer zu sitzen. Und er war froh, einen Verbündeten zu haben, dem er vorbehaltlos trauen konnte. Er hatte Julia angerufen und erfahren, dass sie an der Tankstelle in Bedford war, nördlich der Stadt. Da sämtliche Tankstellen in Byram Hills geschlossen hatten, war sie die fünf Meilen gefahren, um ihren fast leeren Tank zu füllen, ehe sie einen Arzt abholen wollte, dessen Hilfe an der Absturzstelle gebraucht wurde.
Mit bebender Stimme hatte Julia ihm erzählt, dass sie unmittelbar vor dem Start aus der Maschine gestiegen war. Nick sagte ihr, sie solle nicht weiterfahren, sich in ihren Wagen setzen und auf ihn warten.
»Ich kann nicht fassen, dass Jason tot ist«, sagte Marcus kopfschüttelnd. »Ich hatte keine Ahnung, dass er nach Boston fliegt.«
»Es tut mir leid«, sagte Nick.
Schweigend fuhren sie durch die Geisterstadt Byram Hills.
»Ich bin ziemlich überzeugend«, brach Marcus schließlich das Schweigen.
»Du meinst deinen Brief? Ja, du kannst sehr überzeugend sein. Gott sei Dank«, erwiderte Nick und blickte auf Washington House, als sie daran vorbeifuhren.
»Die ganze Sache ist unfassbar. Nick, du musst mir sagen, was los ist.«
Nick brauchte fünf Minuten, um Marcus ins Bild zu setzen – über Dance und Dreyfus, Julia und den Mahagonikasten und seine Begegnungen mit dem Tod. Dann zog er die goldene Taschenuhr hervor, klappte den Deckel auf und hielt sie Marcus hin.
»Nimm sie weg«, sagte Marcus.
»Du willst sie dir nicht anschauen?«
»Im Leben gibt es ein paar Dinge, die wir lieber nicht sehen und nicht wissen sollten.«
Als sie sich auf der Route 22 dem Sullivan Field näherten, schwiegen sie beide. Flammen loderten zum Himmel, und dicker schwarzer Rauch verdeckte die Sonne. Es war Viertel nach eins, und die Feuerwehren von Banksville, Bedford, Mount Kisco, Pleasantville und fünf anderen Gemeinden unterstützten die Freiwilligen aus Byram Hills, die seit über einer Stunde gegen den Brand kämpften. Es war eine Schlacht, bei der es keinen Sieger geben würde.
»Verstehe mich nicht falsch, du tust das Richtige, aber … hast du dir schon mal überlegt, inwiefern dein Handeln die Zukunft ändert? Hast du über die Auswirkungen nachgedacht, die jeder deiner Schritte, jedes Gespräch haben wird?«
Ein roter Toyota 4 Runner schoss an Marcus’ Limousine vorbei und schnitt ihn, ehe er davonraste.
»Unser Handeln hat weitreichende Folgen, die wir niemals sehen.« Marcus zeigte auf den Toyota, der die Straße hinunter verschwand. »Durch einen rücksichtslosen Fahrer wie den da kann eine Ereigniskette in Gang gesetzt werden, die im Dominoeffekt das Leben von hundert Menschen verändert, und die haben wiederum Auswirkungen auf alle Menschen, mit denen sie Kontakt haben.
Angenommen, ein Mann rast über einen Highway und verursacht einen Unfall. Durch den Stau, der dadurch entsteht, kommen zahlreiche Menschen nicht rechtzeitig nach Hause. Unter diesen Verspäteten ist vielleicht ein Arzt, dessen kleines Kind etwas verschluckt hat, das ihm die Luftröhre verstopft. Der verängstigte Babysitter weiß nicht, was zu tun ist, und das Kind stirbt. Wäre der Vater rechtzeitig nach Hause gekommen, hätte er an dem Kind den Heimlich-Handgriff angewendet und es retten können. Und das Kind wäre aufgewachsen und hätte, von seinem Vater zu einer medizinischen Ausbildung inspiriert, möglicherweise das Heilmittel gegen Krebs entdeckt. Das aber geschieht nicht, weil der Mann den Unfall gebaut und den Stau verursacht hat. Es sind die oft zitierten Paradoxe, die durch Zeitreisen entstehen. Wie die Sache mit dem Mann, der in die Vergangenheit reist und seinen Großvater im Kindesalter umbringt, wobei sich dann die Frage stellt, wie der Mann in die Vergangenheit hat reisen können, weil er gar nicht existieren dürfte, da er seinen Großvater ermordet hatte.«
Die helle Mittagssonne tauchte die Welt in grellen Schein. Marcus setzte die verspiegelte Sonnenbrille auf und griff in die Seitentasche der Tür, holte Sonnenmilch hervor und rieb sich damit die Halbglatze ein.
»Mein Gott«, sagte er, »überleg nur, was du mit der Macht anstellen könntest, die du in Händen hältst.«
»Ja, auf der Pferderennbahn wäre ich der Größte«, erwiderte Nick.
»Ach was, Pferderennen! Denk mal an die Börse. An das Geschäftsleben. Da winkt das große Geld. Wenn du das Verhalten deiner Gegner kennst, ehe sie ihren Zug machen.« Marcus zog den Umschlag, den er an sich selbst adressiert hatte, aus der Tasche und
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