Die 13. Stunde
schaute auf die Seite aus dem Wall Street Journal . »Ist dir klar, dass ich mit einem Informationsvorlauf von fast vier Stunden Milliarden verdienen könnte?«
»Schön zu sehen, dass der Kapitalist in dir noch lebt.«
»Oder denk an internationale Beziehungen, an Friedensgespräche. Man könnte den Lauf der Geschichte ändern, Katastrophen verhindern. Man könnte den Ausgang von Mordprozessen beeinflussen, sogar den Ausgang von Kriegen. In den falschen Händen – und ich glaube, das betrifft so ziemlich jeden – ist dieses Ding unfassbar gefährlich. Die Macht, die Zukunft zu kennen, korrumpiert selbst den edelsten Menschen.« Er blickte Nick an. »Versprich mir, dass du sie vernichtest, sobald du sicher sein kannst, dass Julia außer Gefahr ist.«
»Du hast mein Wort«, sagte Nick.
Marcus blickte wieder auf die Seite aus dem Wall Street Journal , steckte sie in den Umschlag zurück und reichte ihn Nick. »Mir fehlen die Worte, um auszudrücken, was für eine große Versuchung das ist. Mit einem einzigen Anruf …«
Nick steckte den Umschlag in die Tasche. »Gut zu sehen, dass nicht jeder so leicht zu korrumpieren ist.«
»Nick.« Marcus sah ihn kurz an. »Weiß Julia von ihrem Tod?«
Nick schüttelte den Kopf. »Sie hat ihn durchlitten, oder sie wird es noch, aber erst in ein paar Stunden. Im Augenblick ist sie nur froh, rechtzeitig aus dem Flugzeug gestiegen zu sein.«
»Ich gewöhne mich nie an diese Vorstellung«, sagte Marcus kopfschüttelnd. »Du redest von der Zukunft, als wäre sie Vergangenheit.«
»So ist das ganze Leben in den letzten acht Stunden für mich verlaufen.«
»Wie behältst du den Überblick? Ohne jemanden, der sich erinnert, was passiert ist? Ohne roten Faden? Ich würde völlig durcheinanderkommen.«
»Ich denke einzig und allein an Julia. Die Zeit ist mir egal. Ich kümmere mich um gar nichts, nur darum, ihren Mörder zu finden und aufzuhalten. Sie ist der roten Faden.«
Die Flammen loderten zwanzig Meter hoch, und die intensive Hitze hinderte die Feuerwehrmannschaften wie ein unsichtbares Kraftfeld daran, sich den Brandherden auf weniger als fünfzig Meter zu nähern. Das Feuer brüllte wie eine unmenschliche Bestie, versengte die Luft und ließ das Metall des Flugzeugrumpfs ausglühen.
Über das Trümmerfeld war weißer, wolkenähnlicher Schaum gelegt worden, der das Löschen des Flugbenzins unterstützen sollte. Acht Wasserkanonen kämpften gegen die sich ausbreitenden Flammen, die bereits an den umliegenden Wäldern nagten.
Zum Glück waren für den kurzen Flug nach Boston die Tanks in den Tragflächen der Maschine nur halb gefüllt gewesen, da man es bei den heutigen Brennstoffpreisen vermied, unnötiges Gewicht zu transportieren. Doch dieser Glücksfall interessierte die Feuerwehrleute wenig, als sie sich nun verzweifelt abmühten, elftausend Liter brennendes Flugbenzin einzudämmen.
Männer in Brandschutzanzügen durchsuchten das Gelände in der Hoffnung auf ein Wunder, fanden jedoch nichts außer zermalmten Leichen und Metallsplittern. Frische Kräfte der Nationalgarde trafen ein, um die Einsatzkräfte vor Ort zu unterstützen. Scharen von Neugierigen schauten zu, schockiert und fasziniert zugleich, bis man sie aufforderte, zu gehen, oder sie als Helfer rekrutierte.
Dance umging das lodernde Wrack und achtete nicht auf die Schläuche der Feuerwehr, von denen das Wasser auf seinen blauen Blazer spritzte. Bei all dem Tod, dem sinnlosen Leiden und Sterben, empfand Dance keinen Augenblick Mitleid, weinte keine Träne um die Toten. Irgendwo dort lag die Leiche von Sam Dreyfus, und irgendwo dort war der Kasten, von dem er sich nicht hatte trennen wollen – ein Gegenstand von unvorstellbarem Wert. Wenn er einem Millionär wie Dreyfus wichtiger war als Gold und Brillanten, musste sein Wert in die Hunderte Millionen Dollar gehen.
Dance lächelte. Sam Dreyfus hatte bekommen, was er verdiente. Dance hoffte nur, dass der Kerl sich seines unmittelbar bevorstehenden Todes bewusst gewesen war, als die Maschine vom Himmel stürzte.
Dance hatte keine Furcht, dass jemand vor ihm den Kasten erreichte, sofern er den Aufschlag überstanden hatte. Die Absturzstelle war wie ein Verbrechensschauplatz; jeder, der ertappt wurde, wenn er etwas entwendete, zog nicht nur öffentlichen Zorn auf sich – er kam außerdem wegen Verstoßes gegen Bundesgesetze vor Gericht. Wenn der Holzkasten noch intakt war, wüsste niemand, worum es sich dabei handelte. Und weil Dance einer der
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