Die 13. Stunde
Schuss dröhnte noch in seinen Ohren, als er einen fürchterlichen Schrei aus Richtung der Tür vernahm.
Als Nick den Kopf drehte, verlor er alle Hoffnung. Alles, was er versucht hatte, war vergebens gewesen. Sein bester Freund war tot; er war machtlos, und Dance würde mit allem durchkommen.
Denn in der Tür stand, vor Angst schreiend und mit blankem Entsetzen in den Augen, der Mensch, den er hier zuallerletzt erwartet hätte.
Julia.
Dann wurde die Welt um Nick herum schwarz.
N ick stürzte auf den Boden der Bibliothek und schrie vor Qual. Sein bester Freund war tot, und Julia hatte nicht mehr lange zu leben.
Es ging längst nicht mehr darum, sie vor ihrem Tod um 18.40 Uhr zu bewahren. Er musste sie um 13.00 Uhr vor der Zukunft retten, die er soeben für sie geschaffen und in der er sie allein gelassen hatte, um von Dance’ Hand zu sterben. Und er musste die tödliche Zukunft abwenden, die Marcus drohte, seinem besten Freund, der ihm geholfen hatte, ohne Fragen zu stellen, der ihm geglaubt hatte, als Nick von goldenen Taschenuhren und unmöglichen Zeitreisen erzählt hatte, und der für Julia in den Tod gegangen war – ein Opfer, das sich als vergeblich erwiesen hatte.
Nick spielte Gott, und nun bekam er die Folgen zu spüren. Er bewegte die Figuren in einem Spiel, das er bereits verloren hatte. Er konnte nicht vorgreifen und seine Freunde retten, sondern erlitt ständig Rückschläge, als wäre er eine Figur aus einer griechischen Sage, und Zeus und Athene spielten mit seinem Leben. Nur dass Zeus in diesem Fall einen zweireihigen blauen Blazer trug und geheimnisvolle Taschenuhren austeilte, von denen Einstein nie gehört hatte.
Jede Bewegung, jeder falsche Schritt in den letzten neun Stunden hatte Folgen gezeitigt, die Nicks Ausgangssituation verschlimmerten. Stück für Stück wurde sein Leben zerlegt.
Nick musste verhindern, dass etwas von dem geschah, was er in den letzten Stunden miterlebt hatte, wollte er auch nur die geringste Chance haben, alles ins Lot zu bringen. Doch mit jedem Schritt, den er tat, mit jeder Veränderung, die er bewirkte, schuf er eine Zukunft, die weit schlimmer ausfiel als die, die er ursprünglich hatte verhindern wollen.
Marcus hat recht, überlegte er. Die unbeabsichtigten Folgen unseres Handelns ändern nicht nur unsere eigene Zukunft, sie beeinflussen auch das Leben aller, die um uns sind – aller Menschen, die uns lieb und teuer sind.
Nick jagte in seinem Audi über den Sunrise Drive. Von seinem Schreibtisch hatte er sich sein persönliches Handy genommen, das in der Zukunft in Marcus’ Wagen zurückgeblieben war. Ähnlich hatte er seine Autoschlüssel im roten Schlüsselkasten des hinteren Flurs gefunden. Die Pistole hatte er aus dem Safe genommen und spürte nun ihren kalten Stahl im Kreuz. Wieder war er fasziniert gewesen, als er das Rädchen nach links, rechts und wieder links drehte und die Pistole in der Vergangenheit dort liegend vorfand. Er versuchte, sich darüber klar zu werden, welche Folgen es gehabt hatte, dass er die Waffe schon oft aus dem Tresor genommen und dabei jedes Mal unmöglich gemacht hatte, dass sie in der Zukunft noch dort lag. Doch er konnte dieses Paradoxon nicht begreifen. Und soweit es ihn betraf, gab es keine Zukunft ohne Julia.
Als Nick die Stadt erreichte, fuhr er ins Zentrum des Grauens. Die Gehsteige waren voll, die Straßen verstopft, der Verkehr stand. Fahrer lehnten an ihren Wagen, deren Motoren im Leerlauf liefen. Aller Blicke waren zum Himmel gerichtet, auf die dicken schwarzen Rauchwolken, deren Bäuche von grellen Explosionen erhellt wurden, wenn das Flugbenzin zündete. Sekunden später brandete Donner heran, der den Boden erschütterte.
Es war, als würde in Byram Hills Krieg geführt. Als stünde ein gewaltiges Ungeheuer am Horizont, das die Pranken vorstreckte und alle verschlingen würde. Panik erfüllte die Straßen; Geschäftsinhaber schlossen ihre Läden, und Parkplätze leerten sich.
Männer und Frauen wählten mit zitternden Händen hektisch an Handys, ohne sich erinnern zu können, in welchem Flugzeug ihre Angehörigen saßen. Kinder blickten mit großen, verwunderten Augen auf das Schauspiel, ohne zu begreifen, was sie sahen.
Der Tod war nach Byram Hills gekommen.
Rufe und Schreie, Weinen und Stöhnen erfüllten die Stadt. Menschen eilten die Bürgersteige entlang, Fußgänger sprangen in Autos. In der Ferne erklang das Kreischen von Feuerwehrsirenen. Streifenwagen rasten durch die
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