Die 2 Chance
abgenutzten roten Ledersessel. Auf einem Buch lag eine Brille. Instinktiv riskierte Cindy einen Blick:
Ein herzzerreißendes Werk von umwerfender Genialität.
Damit hätte sie nie gerechnet.
»Heilen die Wunden?«, fragte sie.
»Ich gebe mir Mühe. Heute habe ich Ihren Artikel gelesen. Das mit dem Polizisten ist schrecklich. Ist es wahr, dass Tashas Mörder vielleicht in zwei andere Morde verwickelt ist?«
»Die Polizei glaubt das«, antwortete Cindy. »Die Gerichtsmedizinerin ist überzeugt, dass Tasha absichtlich erschossen wurde.«
Ungläubig schaute Winslow sie an. »Das verstehe ich nicht. Tasha war nur ein kleines Mädchen. Welche Verbindung könnte da sein?«
»Es ging nicht so sehr um Tasha, sondern um ihr Umfeld.« Cindy hielt Blickkontakt mit Aaron Winslow. »Offenbar haben alle Mordopfer eine Verbindung zu Polizisten in San Francisco.«
Winslows Augen verengten sich. »Sagen Sie mir, was Sie hierher gebracht hat. Seelenschmerzen? Warum sind Sie hier?«
Cindy senkte die Augen. »Der Gottesdienst gestern. Er war so bewegend. Mir ist es eiskalt über den Rücken gelaufen wie seit langem nicht. Eigentlich glaube ich, dass meine Seele schmerzt. Ich habe mir nur nicht die Mühe gemacht, es zur Kenntnis zu nehmen.«
Winslows Blick wurde weicher. Sie hatte ihm ein kleines Stück Wahrheit über sich anvertraut, und das hatte ihn gerührt. »Gut, ich bin froh zu hören, dass Sie bewegt waren.«
Cindy lächelte. Es war unglaublich, dass dieser Mann es fertig brachte, dass sie sich entspannt fühlte. Er schien authentisch zu sein, in sich ruhend, und sie hatte nur Gutes über ihn gehört. Sie wollte einen Artikel über ihn schreiben, und sie wusste, dass er gut werden würde, vielleicht eine großartige Geschichte.
»Wetten, dass ich weiß, was Sie denken«, sagte Aaron Winslow.
»Okay, schießen Sie los«, sagte Cindy.
»Sie machen sich Gedanken… Der Mann scheint sich gut im Griff zu haben, ist nicht völlig durchgeknallt. Er sieht überhaupt nicht aus wie ein Geistlicher und benimmt sich auch nicht so. Wieso verbringt er sein Leben mit dieser Arbeit hier?«
Cindy lächelte verlegen. »Ich gebe zu, dass mir ähnliche Gedanken gekommen sind. Ich möchte gern einen Artikel über Sie und die Nachbarschaft hier in Bay View schreiben.«
Er schien darüber nachzudenken. Aber dann wechselte er das Thema.
»Was tun Sie wirklich gern, Cindy?«
»Ich… tun?«
»In der großen schlechten Welt von San Francisco, über die Sie berichten. Nachdem Sie einen Artikel geschrieben haben. Was bewegt Sie, abgesehen von Ihrer Arbeit am
Chronicle
? Welche Leidenschaften haben Sie?«
Unwillkürlich lächelte sie. »He, ich stelle die Fragen, nicht umgekehrt. Ich möchte über
Sie
schreiben«, sagte sie. »Na schön, ich mag Yoga und gehe zweimal die Woche zu einem Kurs in der Chestnut Street. Haben Sie jemals Yoga gemacht?«
»Nein, aber ich meditiere jeden Tag.«
Cindy lächelte noch mehr, obwohl sie nicht wusste, weshalb. »Ich bin in einem Frauen-Buchclub, eigentlich in zwei Frauenclubs. Ich mag Jazz.«
Winslows Augen leuchteten auf. »Was für Jazz? Ich mag Jazz auch sehr gern.«
»Progressiv. Interpretativ. Alles von Pinetop Perkins bis Coltrane.«
»Kennen Sie das ›Blue Door‹ auf Geary?«, fragte sie.
»Selbstverständlich kenne ich das Blue Door. Immer wenn Carlos Reyes in der Stadt ist, gehe ich hin. Vielleicht könnten wir mal gemeinsam hingehen. Als Teil Ihres Interviews. Sie müssen nicht gleich antworten.«
»Dann willigen Sie ein, dass ich über Sie schreibe?«
»Ja, ich willige ein… dass Sie etwas über diese Nachbarschaft schreiben. Dabei will ich Ihnen gern helfen.«
Eine halbe Stunde später saß Cindy in ihrem Auto und startete den Motor. Sie war immer noch so verblüfft, dass sie den Gang nicht einlegen konnte.
Ich kann nicht fassen, was ich gerade getan habe
… Lindsay würde sich an die Stirn tippen und fragen, ob sie noch richtig ticke.
Sie
tickte
richtig, ja, sie summte sogar. Sie hatte den Anfang einer richtig guten Geschichte, vielleicht sogar einer preisverdächtigen.
Außerdem hatte sie eine Verabredung mit Tasha Catchings Pastor – und konnte es kaum erwarten, ihn wiederzusehen.
Vielleicht hat meine Seele tatsächlich geschmerzt
, dachte Cindy, als sie schließlich von der Kirche wegfuhr.
Es war Samstag, kurz vor sieben. Das Ende einer langen, verrückten und unglaublich anstrengenden Woche. Drei Menschen waren gestorben. Gute verwertbare Hinweise waren aufgetaucht und
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