Die 39 Zeichen 06 - Gefahr am Ende der Welt
hereinspazieren. Ich weiß nicht, warum.«
Amy ging es genauso. Sie fühlte sich ihren Eltern hier näher als zu Hause. Dabei trennte sie die halbe Erdkugel von allem, was sie kannte.
Dan gähnte. »Sie haben uns einen ganzen Monat allein gelassen. « Seine Stimme war nur noch ein schwaches Murmeln, er war wohl kurz davor, wieder einzunicken. »Das ist ganz schön lange, wenn man kleine Kinder hat.«
»Es muss unheimlich wichtig gewesen sein«, flüsterte Amy.
»Ich bin froh, dass sie nach den Hinweisen gesucht haben,
genau wie wir«, sagte Dan. Er gähnte wieder. »Wäre es nicht toll, wenn Shep, wenn das alles hier vorbei ist … unser Vater wäre? Wir könnten bei ihm einziehen …«
»Dan, ich weiß nicht. Er ist nicht der Vatertyp.«
»Man weiß ja nicht, ob man der Vatertyp ist, bis man Vater wird. Außerdem, kannst du dir vorstellen, dass wir zu Beatrice, der Schrecklichen, zurückkehren?«
Nein, das konnte sie nicht. Sie konnte sich überhaupt nicht vorstellen, wohin das alles führen würde. Aber als Dan es aussprach, wurde ihr klar, dass er recht hatte. Sie konnte sich nicht vorstellen, zu Tante Beatrice zurückzukehren. Sie konnte sich nicht vorstellen, in die Schule oder nach Boston zurückzukehren.
Dort gehörten sie nicht mehr hin.
Sie gehörten nirgends mehr hin.
Nach einer Minute atmete Dan tief und gleichmäßig. Amy ging zurück zu der ausziehbaren Couch, die sie sich mit Nellie teilte. Sie schlüpfte wieder unter die Decke und schlief eingewickelt in die Jacke ihrer Mutter ein.
Amy träumte. Ihre Mutter packte sie an der Hand. Im Kamin knisterte ein Feuer. Dann geriet das Feuer außer Kontrolle … auf den Rasen fiel Asche wie Schnee herab.
»Bring die Kinder raus!«
Sie fuhr aus dem Schlaf auf. Es war noch immer dunkel. Sie hörte Nellie leise neben sich atmen.
Und dann blitzte eine Erinnerung auf und die Schatten verschwanden.
Nachdem sie gebadet hatte, war sie nicht schlafen gegangen.
Sie hatte ihre kleine grüne Glaslampe angemacht und ein Buch zur Hand genommen. Manchmal las sie sich in den Schlaf. Es war ein Geheimnis, das sie vor ihren Eltern verbarg. Nur Grace wusste es und die ließ sie immer gewähren.
Da sie noch wach war, hörte sie die Gäste ankommen. Hörte ihr Gemurmel. Dann plötzlich wurden die Stimmen laut. Sie stand auf und horchte. Sie trug ihr Nachthemd, das mit den Koalas, das ihre Mutter ihr von der langen Reise mitgebracht hatte. Die Stimmen ihrer Eltern klangen fremd.
Sie schlich die Treppe hinunter und durch den Flur zum Arbeitszimmer ihres Vaters. Ihre Eltern konnte sie nicht sehen. Sie waren von Fremden umgeben. Das Licht war gedämpft, doch im Kamin loderte ein Feuer.
Sie hörte Wortfetzen, und Amy schloss die Augen und versuchte, sich zu erinnern.
Entehrung der Festungen …
Wo seid ihr gewesen …
Dann die Stimme ihres Vaters: Wann und wohin wir reisen, geht nur uns was an.
Jetzt beruhigen wir uns alle mal. Wir wollen nur haben, was uns zusteht.
Wo wart ihr…
Sagt es endlich, oder…
Oder was? Ihr steht hier in meinem Haus und wagt es, mir zu drohen?
Die Stimme ihrer Mutter war hart und kühl. Sie machte Amy Angst. Sie durchbrach den Kreis der Fremden. »Mami!«
Aber bevor ihre Mutter sie hochnehmen konnte, hatte es schon jemand anders getan. Jemand, der nach Parfüm und
Make-up roch. Eine wunderschöne Frau mit großen honigfarbenen Augen. In Amys Erinnerung sah sie darin den Widerschein des Feuers.
»Wer ist das denn? Was für ein hübsches Nachthemd! Sind das aber liebe Teddybären.«
»Koalas«, verbessert sie Amy, denn sie hat das Wort gerade erst gelernt und ist sehr stolz darauf.
Die Finger der Dame umschließen sie etwas fester. Sie blickt über Amys Kopf hinweg und lächelt Mama und Papa an.
»Haben dir das Mami und Papi von ihrer Reise mitgebracht?«
Die Dame hält sie jetzt zu fest. Amy versucht, sich freizumachen, doch sie lockert ihren Griff nicht.
Und ihre Mutter sieht aus, als hätte sie Angst …
Amy setzte sich im Bett auf. Die Wahrheit erfüllte sie mit Entsetzen. Sie traf sie wie ein Faustschlag.
Die Dame, die sie im Arm gehalten hatte, war Isabel Kabra. Wer war sonst noch dort gewesen? Sie versuchte verzweifelt, sich zu erinnern. Es waren mehrere Leute, die ihr damals fremd waren. Amy war zu schüchtern gewesen, um ihnen ins Gesicht zu sehen. Sie wussten, dass ihre Eltern verreist waren, nicht aber, wohin. Aus irgendeinem Grund mussten sie es unbedingt wissen. Ihre Eltern hatten es ihnen nicht verraten … bis
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