Die 4 Frau
lächelte mich über den Schreibtisch hinweg an. »Und überhaupt diese ganze verrückte Yuppie-Szene.«
Bei lauwarmem Kaffee mit Kaffeeweißer erzählte ich Bob von meinem ersten Mordfall.
»Wir haben ihn in einer schäbigen Absteige im Tenderloin District gefunden. Ich hatte vorher schon so manche Leiche gesehen, aber auf diesen Anblick war ich nicht vorbereitet, Bob. Er war jung – zwischen siebzehn und einundzwanzig schätzungsweise –, und als ich das Zimmer betrat, fand ich ihn mit ausgestreckten Armen und Beinen auf dem Rücken liegend, halb verwest in einer Lache seines geronnenen Blutes. Es wimmelte nur so von Fliegen. Eine glänzende Decke aus Fliegenleibern, die seinen ganzen Körper bedeckte.«
Meine Kehle schnürte sich zu, als das Bild mich aufs Neue überwältigte; ich sah es so deutlich vor mir, als stünde ich in diesem Moment wieder in dem Hotelzimmer und dächte:
O Gott, holt mich hier raus
. Ich trank kleine Schlucke von dem fürchterlichen Kaffee, bis ich wieder sprechen konnte.
»Er hatte nur zwei Kleidungsstücke am Leib: eine gewöhnliche weiße Socke von Hanes, nicht unterscheidbar von Hunderttausenden anderer, die in diesem Jahr landesweit verkauft wurden, und ein T-Shirt von der Distillery. Kennen Sie das Lokal?«
Bob nickte. »Ich wette, dass jeder einzelne Tourist, der seit 1930 durch Half Moon Bay gekommen ist, dort gegessen hat.«
»Genau. Tolle Spur.«
»Wie ist er gestorben?«
»Die Kehle war mit einem Messer aufgeschlitzt worden. Und da waren diese Streifen auf seinem Hintern, wie Male von einer Peitsche. Kommt Ihnen das bekannt vor?«
Bob nickte wieder. Er lauschte konzentriert, und so fuhr ich fort. Ich erzählte ihm, dass wir wochenlang die ganze Stadt und ganz Half Moon Bay nach Zeugen abgeklappert hatten.
»Niemand kannte das Opfer, Bob. Seine Fingerabdrücke waren nicht registriert, und das Zimmer, in dem er gestorben war, war so dreckig, dass wir einen klassischen Fall von Kreuzkontamination hatten. Wir hatten nicht die geringste Spur.
Es meldeten sich auch keine Angehörigen, die Anspruch auf die Leiche erhoben hätten. Das ist nicht allzu ungewöhnlich; wir hatten in dem betreffenden Jahr schon dreiundzwanzig unidentifizierte Tote gehabt. Aber sein unschuldiges junges Gesicht sehe ich nach wie vor. Er hatte blaue Augen«, sagte ich. »Rotblonde Haare. Und jetzt, so viele Jahre später, diese ganzen neuen Mordfälle mit der gleichen Handschrift.«
»Wissen Sie, was ich wirklich unheimlich finde, Lindsay? Die Vorstellung, dass dieser Mörder jemand sein könnte, der hier in dieser Stadt lebt –«
Das Läuten des Telefons unterbrach Bob mitten im Satz.
»Robert Hinton«, meldete er sich.
Im nächsten Moment wich alle Farbe aus seinem Gesicht. Die Stille wurde nur dann und wann von Bobs einsilbigem »Mhm, mhm« unterbrochen. Dann sagte er: »Danke, dass du mir Bescheid gesagt hast«, und legte auf.
»Das war ein Bekannter von mir, der bei der
Gazette
arbeitet«, erklärte er. »Ein paar Jugendliche haben beim Wandern im Wald Ben O'Malleys Leiche gefunden.«
56
Jake Daltrys Eltern lebten in einer Wohnsiedlung in Palo Alto, dreißig Autominuten südöstlich von Half Moon Bay. Ich parkte den Explorer auf der Straße vor ihrem zweistöckigen cremefarbenen Haus im Ranchstil – einem von einem Dutzend gleicher Bauart in der Brighton Street.
Ein beleibter, ungepflegt wirkender Mann mit wehenden grauen Haaren öffnete mir die Tür. Er trug ein Baumwollhemd und eine blaue Kordelhose.
»Mr. Richard Daltry?«
»Wir kaufen nichts«, sagte er und schlug die Tür zu.
So leicht wimmelst du mich nicht ab, Freundchen
. Ich zückte meine Dienstmarke und klingelte wieder. Diesmal öffnete eine zierliche Frau mit hennagefärbten, an den Wurzeln grauen Haaren, die ein Hauskleid mit Häschenmuster trug.
»Was kann ich für Sie tun?«
»Ich bin Lieutenant Lindsay Boxer vom SFPD«, sagte ich und zeigte ihr meine Marke. »Ich ermittle in einem Mordfall, der als ungelöst zu den Akten gelegt wurde.«
»Und was hat das mit uns zu tun?«
»Ich glaube, dass es auffallende Ähnlichkeiten zwischen meinem alten Fall und dem Tod von Jake und Alice Daltry gibt.«
»Ich bin Agnes, Jakes Mutter«, sagte sie und machte die Tür ganz auf. »Sie müssen meinen Mann entschuldigen. Wir stehen unter einer enormen Anspannung. Die Presse ist einfach furchtbar.«
Ich folgte der älteren Frau ins Haus, wo es nach Möbelpolitur roch, und weiter in eine Küche, in der anscheinend seit Hinckleys
Weitere Kostenlose Bücher