Die 4 Frau
Ich konnte nicht glauben, dass schon zwei Stunden vergangen waren, und ich fand es ausgesprochen schade, dass Allison gehen musste.
»Komm bald wieder«, sagte ich, als ich sie zum Abschied umarmte. »Du kannst mich jederzeit wieder besuchen, Ali.«
53
Ich stand an der Straße und winkte, bis Carolees Minivan hinter der Kurve verschwunden war. Doch als ich dann allein auf der Sea View Avenue stand, drang ein Gedanke, der bisher nur am Rand meines Bewusstseins herumgeirrt war, in mein Vorderhirn vor und setzte sich dort fest.
Ich ging mit meinem Laptop ins Wohnzimmer, machte es mir in einem weichen Sessel bequem und lud die NCIC-Straftäter-datei hoch. Nach wenigen Minuten wusste ich bereits, dass Dr. Ben O'Malley, 48, schon mehrfach wegen Geschwindigkeitsüberschreitung vorgeladen und einmal, vor fünf Jahren, wegen Fahrens unter Alkoholeinfluss in Arrest genommen worden war. Er war zweimal verheiratet gewesen und gerade zum zweiten Mal Witwer geworden.
Ehefrau Nummer eins war Sandra, die Mutter der gemeinsamen Tochter Caitlin. Sie hatte sich 1994 in der Doppelgarage der Familie erhängt.
Die zweite Mrs. O'Malley, geborene Lorelei Breen, gestern im Alter von neununddreißig Jahren ermordet, war 1998 wegen Ladendiebstahls verhaftet und nach Zahlung einer Geldbuße wieder auf freien Fuß gesetzt worden.
Ich wiederholte die Prozedur mit den Namen Alice und Jake Daltry, und sogleich wurde mein Bildschirm von Informationen geradezu überflutet. Jake und Alice waren acht Jahre verheiratet gewesen, als sie in ihrem gelben Haus in Crescent Heights ermordet wurden, und hinterließen zwei Söhne, Zwillinge von sechs Jahren. Ich rief mir ihr reizendes Heim in Erinnerung, mit dem etwas eingeschränkten Blick auf die Bucht, dem vergessenen Basketball, dem Kinderturnschuh auf der Hintertreppe.
Dann konzentrierte ich mich wieder auf den Monitor.
Jake war ein böser Bube gewesen, bevor er Alice geheiratet hatte. Ich klickte mich durch sein Vorstrafenregister: Ansprechen einer Prostituierten, Fälschung der Unterschrift seines Vaters auf Sozialversicherungsschecks, wofür er sechs Monate gesessen hatte. In den letzten acht Jahren jedoch war er sauber geblieben und hatte einen Vollzeit-Job in einer Pizzeria in der Stadt gehabt.
Gattin Alice, 32, hatte keine Vorstrafen. Sie hatte nie auch nur eine rote Ampel überfahren oder beim Ausparken auf dem Supermarkt-Parkplatz einen anderen Wagen gerammt.
Aber tot war sie trotzdem.
Also, was folgte aus alldem?
Ich rief Claire an, und sie hob beim ersten Läuten ab. Wir kamen gleich zur Sache.
»Claire, kannst du ein bisschen für mich recherchieren? Ich suche nach einer Verbindung zwischen dem O'Malley-Mord und dem Doppelmord an Alice und Jake Daltry.«
»Klar, Lindsay. Ich telefoniere mal bei meinen Kollegen rum und sehe zu, was ich in Erfahrung bringen kann.«
»Und könntest du auch versuchen, etwas über Sandra O'Malley rauszufinden? Sie ist 1994 gestorben – hat sich erhängt.«
Wir unterhielten uns noch eine Weile über Claires Mann Edmund und einen Saphirring, den er ihr zum Hochzeitstag geschenkt hatte. Und über ein kleines Mädchen namens Ali, das einen besonderen Draht zu Schweinen hatte.
Als ich schließlich auflegte, hatte ich das Gefühl, eine bessere, gehaltvollere Art von Luft zu atmen. Ich wollte gerade den Computer ausschalten, als mir etwas ins Auge sprang. Als Lorelei O'Malley wegen der Zwanzig-Dollar-Ohrringe, die sie hatte mitgehen lassen, vor Gericht gestanden hatte, war ihr Verteidiger ein hiesiger Anwalt namens Robert Hinton gewesen.
Ich kannte Bob Hinton.
Seine Karte steckte noch in der Tasche meiner Shorts, seit dem Morgen, an dem er mich mit seinem zehngängigen Cannondale umgemäht hatte.
Wenn ich mich recht entsann, schuldete der Typ mir einen Gefallen.
54
Bob Hintons Büro in der Main Street war ungefähr so groß wie ein Schuhkarton, eingeklemmt zwischen einer Starbucks-Filiale und einer Bank. In der Hoffnung, dass er vielleicht auch am Samstag arbeitete, stieß ich die Glastür auf und sah Bob hinter einem großen Holzschreibtisch sitzen, das spärlich behaarte Haupt über den
San Francisco Examiner
gebeugt.
Er riss den Kopf hoch, sein Arm schnellte vor und stieß dabei den Kaffeebecher um. Der Kaffee ergoss sich über die Zeitung, und ich konnte das Bild auf der Titelseite gerade noch erkennen, ehe es von der braunen Brühe aufgeweicht wurde. Es war eine Nahaufnahme eines blonden Jungen in einem Rollstuhl.
Sam Cabot. Mein persönlicher
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