Die 4 Frau
Attentat auf Reagan nichts mehr verändert worden war. Wir nahmen an einem Tisch mit roter Resopalplatte Platz. Durch das Fenster konnte ich in den Garten sehen. Zwei kleine Jungen spielten in einem Sandkasten mit Lastern.
»Meine armen Enkel«, sagte Mrs. Daltry. »Warum musste das passieren?«
Agnes Daltrys Kummer sprach aus ihrem von tiefen Falten zerfurchtem Gesicht, aus ihren hängenden Schultern. Ich spürte, wie sehr sie es brauchte, mit jemandem darüber zu reden, der die ganze Geschichte noch nicht gehört hatte.
»Sagen Sie mir, was passiert ist«, ermutigte ich sie. »Erzählen Sie mir alles, was Sie wissen.«
»Jake war ein wilder Junge«, sagte sie. »Nicht böse, verstehen Sie, aber eigensinnig. Als er Alice kennen lernte, wurde er über Nacht erwachsen. Sie waren so verliebt, und sie wollten unbedingt Kinder. Als die Jungen zur Welt kamen, schwor Jake, dass er ihnen ein Vater sein würde, den sie respektieren konnten. Er liebte diese Jungen, und er hat sein Versprechen gehalten, Lieutenant. Er war so ein guter Mann, und er und Alice hatte so eine gute Ehe – ach.«
Sie legte die Hand aufs Herz und schüttelte tief betrübt den Kopf. Sie konnte einfach nicht weiterreden – und dabei hatte sie noch kein Wort über die Morde gesagt.
Agnes starrte auf die Tischplatte hinunter, als ihr Mann durch die Küche kam. Er warf mir einen finsteren Blick zu, nahm sich ein Bier aus dem Kühlschrank und ging wieder hinaus, wobei er die Tür hinter sich zuknallte.
»Richard ist immer noch böse auf mich«, sagte sie.
»Warum denn, Agnes?«
»Ich habe etwas Schlimmes getan.«
Ich konnte es kaum erwarten, zu hören, was es war. Ich legte die Hand auf ihren bloßen Arm, und bei der Berührung stiegen ihr die Tränen in die Augen.
»Erzählen Sie es mir«, sagte ich leise. Sie griff in eine Schachtel mit Taschentüchern und trocknete sich damit die Augen.
»Ich wollte die Jungen von der Schule abholen«, sagte sie. »Aber zuerst habe ich bei Jake und Alice vorbeigeschaut, um sie zu fragen, ob sie Milch oder Saft brauchten. Jake war nackt, er lag tot in der Diele. Alice lag auf der Treppe.«
Ich starrte Agnes an, drängte sie mit den Augen fortzufahren.
»Ich habe das Blut aufgewischt«, sagte Agnes seufzend. Sie sah mich an, als ob sie erwartete, selbst ausgepeitscht zu werden. »Ich habe sie angezogen. Ich wollte nicht, dass jemand sie so sieht.«
»Sie haben die Spuren am Tatort verwischt«, sagte ich.
»Ich wollte nicht, dass die Jungen das viele Blut sehen.«
57
Einen Monat zuvor hätte ich das noch nicht getan. Da wäre ich viel zu sehr mit meinem Job beschäftigt gewesen. Ich stand auf und nahm Agnes Daltry in die Arme.
Sie legte den Kopf an meine Schulter und weinte, als ob sie nie wieder damit aufhören würde. Jetzt begriff ich. Agnes bekam von ihrem Mann nicht den Trost, den sie brauchte. Ihre Schultern bebten so heftig, dass ich ihren Schmerz fühlen konnte, als ob ich sie schon ewig kannte, als ob ich ihre Familie ebenso liebte, wie sie es tat.
Agens' Kummer berührte mich so sehr, dass mich aufs Neue dieses Gefühl der Verlassenheit überwältigte, das ich nach dem Verlust geliebter Menschen empfunden hatte: meine Mutter, Chris, Jill.
Wie aus weiter Ferne hörte ich die Türklingel. Ich hielt Agnes immer noch im Arm, als ihr Mann wieder in die Küche trat.
»Da ist jemand für
Sie
«, sagte er. Sein Körper strömte seinen Zorn aus wie einen säuerlichen Geruch.
»Für mich?«
Der Mann, der im Wohnzimmer wartete, war eine Studie in Erdtönen: braune Sportjacke mit brauner Hose, braun gestreifte Krawatte. Er hatte braunes Haar, einen dichten braunen Schnauzbart und harte braune Augen.
Doch sein Gesicht war rot. Er schien vor Wut zu kochen.
»Lieutenant Boxer? Ich bin Peter Stark, Polizeichef von Half Moon Bay. Sie müssen mitkommen.«
58
Ich stellte den Explorer auf dem für »Gäste« reservierten Parkplatz vor dem mit grauen Schindeln verkleideten, barackenartigen Polizeigebäude ab. Chief Stark stieg aus seinem Wagen und stapfte über den knirschenden Kies auf den Eingang zu, ohne sich auch nur einmal umzudrehen, um zu sehen, ob ich ihm folgte.
So viel zum Thema Höflichkeit im Dienst.
Das Erste, was mir im Büro des Polizeichefs ins Auge fiel, war der gerahmte Wahlspruch an der Wand hinter seinem Schreibtisch:
Tue recht und scheue niemand
. Dann ließ ich den Blick über das Chaos schweifen: Papierstapel auf jeder horizontalen Fläche, alte Faxgeräte und Kopierer, die Wände
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