Die 500 (German Edition)
unschuldiges Gesicht, listige blaue Augen – plus ein paar Sachen, von denen ich gar nicht gewusst hatte, dass ich nach ihnen suchte. Wenn ich sie den ganzen Tag dabei beobachtete, wie sie in Sitzungen die blasierten Jungs in die Tasche steckte und Anrufe in drei oder vier verschiedenen Sprachen entgegennahm, hatte ich abends, wenn wir gemeinsam das Gebäude verließen, nichts anderes im Sinn, als sie mit all dem zu überfallen, was mir durch den Kopf ging: dass sie es sei, was ich gesucht hätte, dass sie das Leben verkörpere, das ich immer gewollt, aber nie gehabt hätte. Es war verrückt.
Ich begann mich zu fragen, ob sie vielleicht zu perfekt sei, zu überheblich und verwöhnt und unerreichbar. Als wir im Büro zum ersten Mal die Nacht durcharbeiteten – sie und ich und zwei weitere Junior Associates –, gab sie den Ton an. Wir saßen am Konferenztisch, und sie war gerade dabei, uns in eine weitere Feinheit des Beeinflussungsspiels einzuweihen, als sie in Gedanken versunken ihren Bürostuhl vom Tisch wegstieß.
Der Stuhl kippte langsam und unaufhaltsam nach hinten, sie verschwand hinter der Tischkante und fiel rückwärts auf den Teppichboden. Ich rechnete mit einem Aufschrei oder dass sie sich zornig wieder aufrappelte. Stattdessen hörte ich sie zum ersten Mal lachen. Und während sie da auf dem Boden lag und ich sie lachen hörte – ein offenes, ungezwungenes Lachen, das sich um nichts und niemanden scherte –, war meine bescheuerte Annahme, dass ich sowieso nie bei ihr lan den konnte, augenblicklich weggewischt. Immer wenn ich sie lachen hörte, wusste ich, dass sie eine Frau war, die für Falschheiten keine Zeit hatte, die das Leben nahm, wie es kam, und einen mordsmäßigen Spaß daran hatte.
Dieses Lachen führte mich in riskante Gefilde. Wenn ich ihr über den Weg lief, wollte ich das Memo, an dem ich seit einem Monat unablässig arbeitete, aus dem Fenster werfen, auf die Knie fallen und sie bitten, mit mir durchzubrennen und den Rest des Lebens mit mir zu verbringen.
Wahrscheinlich wäre das eine bessere Vorgehensweise gewesen als das, was schließlich passierte. Ich saß nach einer Sitzung im Pausenraum und versuchte mit dem verbliebenen Rhodes-Stipendiaten über meine Annie-Clark-Strategie zu reden, ohne mich wie einer liebesblöder Schwachkopf anzuhören – was größtenteils misslang. Unglücklicherweise stand nur zwei Meter entfernt Annie Clark selbst unbemerkt hinter einer Säule, als der Rhodes-Stipendiat, ein Bursche namens Tuck, mit dem ich mich angefreundet hatte, mir seinen nicht unklugen Rat bezüglich Liebesdingen im Büro mitteilte:
»Don’t shit where you eat.«
»Reizend«, sagte Annie, als sie hinter der Säule hervorkam, hob ihre Flasche und zeigte auf den Wasserspender. »Darf ich?«
Bezüglich Annie Clark hatte ich mir also erst mal den Arsch verbrannt. Aber wie ich schon sagte: Willenskraft in rauen Mengen. Ich brauchte nur einen Lauf. Und wenn ich sie mir vorstellte, wie sie an einem milden Juliabend neben mir im Garten des Hauses in Mount Pleasant saß, war ich fest entschlossen, an diesem ehrbaren Leben festzuhalten, und wenn es mich meinen letzten Atemzug kostete. Ich würde Gould festnageln.
Das nächste Mal traf ich Marcus in der Cafeteria. Er nippte an einem Kaffee und las. Nach ein paar einleitenden Floskeln kam ich gleich auf den Punkt.
»Wann findet das Angebot statt?«
»Hat jemand aus dem Nähkästchen geplaudert?«, fragte er zurück. Wie man die Tortur überlebte, die das erste Jahr bei Davies mit sich brachte, galt allgemein als Black Box. Wer nachfragte, was sich in ihrem Innern befand, musste schon ein bisschen dreist sein. Aber ich glaube, allen Partnern war klar, dass die Junior Associates sich schon das eine oder andere über ihr Schicksal zusammengereimt hatten.
»In drei Tagen«, sagte er. »Davies stattet Gould einen Besuch ab. Wir haben seine Vertrauten behutsam bearbeitet.«
»Und wenn es schiefgeht? Wenn er seine Meinung nicht ändert?«
»Sie haben getan, was Sie konnten, Mike. Ich hoffe um Ihretwillen, dass er Ja sagt.«
Ich beließ es dabei. Ich konnte es in Marcus’ Gesicht lesen. Geschäft ist Geschäft.
Ich hatte nicht vor herumzusitzen, Däumchen zu drehen und zu hoffen, dass es schon klappen würde. Henry hatte mich angeheuert, weil er glaubte, ich wüsste ein bisschen was darüber, wie die Menschen tickten. Er hatte gesagt, dass jeder Mensch seinen Preis hat, einen Hebel, mit dem man ihm seinen Willen aufzwingen konnte. Ich
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