Die 500 (German Edition)
immer, gerade als ich richtig aufgedreht hatte – »Oh your kisses / Sweeter than honey / And guess what / So is my money / All I want you to do for me / Is give it to me when you get home …« –, machte ich eine halbe Drehung zur Seite und sah zwei Meter neben mir auf dem Crosstrainer Annie, die die Ahnungslose spielte. Das war jetzt das zweite Mal, dass sie sich von hinten an mich herangeschlichen hatte. Mitten in den »sock it to mes« blieb ich abrupt stehen.
Sie applaudierte in der dezenten Art einer Golfspielerin.
»Oh, Mann«, sagte ich.
Sie schaute auf das Display meines iPods. »Aretha, so so. Auf so was hätte ich jetzt nicht getippt.«
Ich hob die Augenbrauen. »So was?«
»Soul.«
»Na, vielen Dank.«
»Das meine ich nicht«, sagte sie. »Ich meine, das ist nicht gerade der Soundtrack, den ich mir vorgestellt hatte, als ich dich auf dem Boden hab rumturnen sehen. Wie heißt diese komische Übung eigentlich?«
»Keine Ahnung«, sagte ich. »Und zufällig habe ich jede Menge Soul.«
»Das habe ich gesehen. Coole Moves.«
»Danke.« Tief durchatmen. Wenn nicht jetzt, wann dann? »Hey, warum machen wir nicht mal was zusammen? Außerhalb der Arbeit. Wie wär’s am Wochenende?«
Sie runzelte die Stirn. »Ich hab schon was vor.«
Schadensbegrenzung. »Ja, hmm, cool. Und ein andermal?«
»Warum nicht?«, sagte sie und schlang sich ihr Handtuch um den Hals. »Wanderst du gern?«
Ich hätte auch Ja gesagt, wenn sie mich gefragt hätte, ob ich gerne auf Schatzsuche gehe. »Ja, sicher.«
»Wenn du am Samstag Zeit hast, ich fahre mit ein paar Freunden aufs Land.«
So kam es, dass ich im Shenandoah National Park mit Händen und Füßen über Granitblöcke kraxelte, während Annie in Wanderstiefeln und wollenen Kniestrümpfen vor mir herstapfte, was ihr einen ausgesprochen schweizerischen Touch verlieh. Aus irgendeinem Grund hatte ich sie mir außer halb des Büros immer als Walzer tanzende High-Society-Lady, wie in einem Historienfilm, vorgestellt. Ich wunderte mich also nicht wenig, als mich die blaublütige Yale-Absolventin Annie Clark zu einem Badetümpel in »Moonshine Country« führte.
Ihre Freunde fanden, das Wasser sei zu kalt zum Schwimmen, worauf sie nur mit den Achseln zuckte und mich an schaute. Ich wäre sogar in die Nordsee gesprungen. Also mach ten wir beide uns allein auf den Weg nach unten.
Ein Wasserfall stürzte zwischen alten, dicht wuchernden Bäumen über zehn Meter eine Schlucht hinunter. Es war Anfang September, noch heiß, aber das Wasser war eiskalt. Annie zog ihre Schuhe und ihr langärmeliges Hemd aus und sprang hinein. Wie sie durch das klare Wasser glitt und dann in ihrem Sport-BH und ihren Wandershorts am Ufer lag, wie die Sonne durch die im Wind wiegenden Zweige hindurch über ihre glatte Haut strich – bei dieser Erinnerung bleibt mir bis zum heutigen Tag das Herz stehen. Ich zog mich bis auf meine Shorts aus und sprang hinein. Wenn sie eine Sirene gewesen wäre, wäre ich ihr voller Freude in die Tiefe gefolgt, um nie mehr zurückzukehren. Allerdings rechnete ich nicht damit, dass sie mich wirklich dazu auffordern würde.
»Sollen wir unter die Fälle klettern?«, fragte sie.
»Klar«, sagte ich. Die erste Antwort, die mir durch den Kopf schoss, konnte ich gerade noch unterdrücken. Ja, mein Gott, ja.
»Könnte aber ein bisschen gruselig werden«, sagte sie.
»Wird schon gehen.« Ich meine, also wirklich, was konnte diese behütete kleine Elfe schon in petto haben, das jemandem wie mir Angst einjagen könnte?
Sie ging an den Rand einer Klippe, die aus zwei massiven, dicht nebeneinanderstehenden Felsblöcken bestand und fast zehn Meter hoch war. »Hier durch«, sagte sie und deutete auf etwas, das nicht mal eine Spalte war, eine Ritze vielleicht. Dahinter war es pechschwarz. Annie quetschte sich hinein und versank langsam in der Dunkelheit. Ich folgte ihr. Nach zwei Metern war ich vollkommen blind. Es war furchtbar eng. Ich spürte den Atem, der mir vom Fels ins Gesicht zurückschlug, und hörte vor mir deutlich das Rauschen von Wasser.
»Pass auf deinen Kopf auf«, sagte Annie, die eine geisterhafte Stimme in der Dunkelheit war. Ich streifte ihre Hand, sie nahm sie und führte mich um eine scharfe Ecke. Wir befanden uns in einem Loch tief in der Flanke des Berges. Von oben tropfte Wasser herunter und lief mir übers Gesicht.
»Und jetzt in den Tümpel.« Der Untergrund brach ab, und wir standen plötzlich in eiskaltem Wasser, das mir bis zum Bauchnabel
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