Die 500 (German Edition)
mit Überwachungskameras. Ich fuhr weiter, bog in eine Sackgasse ein, die hinunter zum Fluss führte, und hielt an. Weit unter mir bahnte sich das schäumende Wasser des Potomac seinen Weg durch das Felsenbett.
Die Virginiaseite des Potomac besteht hauptsächlich aus Parklandschaft: Schluchten, Kletterfelsen, Seile, an denen man sich über den Fluss schwingen kann. Ich arbeitete mich durch das dichte Gebüsch den steilen Abhang hinunter und dann von hinten an Henrys Grundstück heran. Ich hatte immer noch keinen Privatbesitz betreten. Von der Straße, von der ich abgebogen war, sah sein Haus wie eine gut versteckte Festung aus. Doch Eitelkeit und Flussblick sind allemal stärker als das Bedürfnis nach Sicherheit. Vom Ufer aus hatte ich schließlich einen unverstellten Blick auf die Casa Henry: ein Herrenhaus auf einem strategisch günstigen Punkt hoch über dem Fluss. Während ich mich langsam über und um die Felsbrocken und Findlinge herumbewegte, sah ich auf der Terrasse im warmen gelben Licht, das aus dem Inneren des Hauses nach draußen drang, die Umrisse zweier Gestalten, die sich unterhielten.
Was ich als Nächstes vorhatte, war vielleicht verrückt. Aber ich schwebte in Gefahr. Marcus hatte mir das mehr oder weniger unverblümt gesagt. Wenn ich schon in einer Angelegenheit auf Leben und Tod den Kopf hinhalten sollte für etwas, von dem ich kaum etwas wusste, dann erschien es mir noch verrückter, stillzuhalten. Ich war sowieso schon zu weit gegangen. Wenn sie entdeckten, was ich getan hatte – die Audiodatei kopiert, die Spesenabrechnungen gestohlen, den GPS-Tracker an Marcus’ Wagen geklemmt –, dann war ich fällig. Besser, ich fand die Wahrheit jetzt heraus und trat dem, was mich erwartete, sehenden Auges entgegen.
Der Zaun um Henrys Grundstück war hoch und so gut in den Hecken versteckt, dass ich den Stacheldraht, der darauf verlief, fast übersehen hätte. Keine Chance, über den Zaun zu kommen. Jedenfalls nicht, wenn ich meine Abendgarderobe nicht ruinieren und nicht vor dem Essen noch in der Notaufnahme vorbeischauen wollte.
Ich ging am Zaun entlang zur Längsseite des Grundstücks und stieß auf zwei Abfallcontainer und einen Weg für den Müllwagen. Im Zaun befand sich ein Tor mit einem elektronischen RFID-Schloss – eins von der Sorte, das man öffnete, indem man einen Schlüsselanhänger oder eine Magnetkarte davorhielt. Das Schloss zu knacken lag jenseits meiner Fähigkeiten. Aber Hightech ist eine zweischneidige Sache. Haben die Leute erst mal für diesen ganzen Sesam-öffne-dich- Krempel bezahlt, dann wollen sie meistens auch einen Bewegungsmelder, der das Tor öffnet, wenn sie von drinnen nach draußen wollen – Tore, die wie in Raumschiff Enterprise auto matisch zur Seite gleiten, wenn man sich ihnen nähert. Das ist der Trick: Von außen kann man das Tor nur mit dem Schlüssel öffnen, von innen ist das mit jedem x-beliebigen Gegenstand möglich.
Ich fand einen knotigen Ast, steckte ihn neben dem Torpfosten durch den Zaun und wedelte damit etwa auf Kopfhöhe herum. Ich hörte das charakteristische Plock eines zurückgleitenden elektromagnetischen Bolzens, drückte das Tor auf und kroch auf dem Bauch auf das Grundstück.
Draußen hing an einem der Container ein einzelner Flutlichtscheinwerfer, dessen grelles Licht Sicherheit suggerierte. Besser dran ist man mit Bewegungsmeldern, oder man lässt die Lichtshow ganz, so ein Punktscheinwerfer bringt jedenfalls gar nichts. Innerhalb des Zauns sah es schon ganz anders aus. Im Geäst der Bäume gleich hinter dem Tor entdeckte ich etwa ein halbes Dutzend Infarot- und Ultraschall-Bewegungsmelder.
Ich hatte alle möglichen Theorien gehört und während meiner Einbrecherkarriere viele Stunden damit verbracht, herauszufinden, wie man derartige Systeme austrickst – ein Tuch um den Kopf wickeln, mit der genau richtigen Geschwindigkeit gehen, einen Neoprenanzug tragen. Tatsache war aber, dass ich niemals in Hörweite der Terrasse gelangen würde, ohne geschnappt zu werden.
Und wenn schon. Die Fehlalarmmasche ist ein alter Trick, der aber in der Regel funktioniert.
Ich fand eine Mulde zwischen den Wurzeln eines hoch aufragenden, riesigen Baumes: ein perfektes Versteck. Ich befand mich immer noch an der Längsseite des Hauses, von wo man mich von der Terrasse aus, wo die beiden Männer standen, nicht sehen konnte. Ich trat vor den nächstgelegenen Bewegungsmelder und fuchtelte wie wild mit den Armen herum. Das hätte locker reichen müssen,
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