Die 6. Geisel - Thriller
ausbreitete.
»Was denkst du, David? Nein, ich nehme das zurück. Bitte, sag es nicht.« Yuki musste sich mühsam das Lachen verkneifen.
»Eine todsichere Sache«, sagte ihr neuer Partner. »Ein Spaziergang.«
72
Yuki stand im Gerichtssaal und kam sich so unbedarft vor, als wäre es ihr allererster Prozess. Sie klammerte sich am Pult fest und dachte: Das Ding sieht nicht größer als ein Notenständer aus, wenn Len dahinter steht. Und sie selbst konnte gerade so über den Rand hinauslugen, wie eine Grundschülerin.
Die Geschworenen sahen sie erwartungsvoll an.
Würde sie diese Menschen tatsächlich davon überzeugen können, dass Alfred Brinkley ein Mörder war, der die Todesstrafe verdient hatte?
Yuki rief ihren ersten Zeugen auf, Officer Bobby Cohen, einen alten Hasen mit fünfzehn Polizeidienstjahren auf dem Buckel. Seine nüchterne, sachliche Art würde eine solide Basis für die Beweisführung der Anklage bilden.
Sie ließ sich von ihm schildern, was er gesehen hatte, als er auf der Del Norte eingetroffen war, und was er dort getan hatte. Als sie mit der Einvernahme des Zeugen fertig war, hatte Mickey Sherman nur eine einzige Frage an Officer Cohen.
»Waren Sie Zeuge des Vorfalls auf der Fähre?«
»Nein, das war ich nicht.«
»Danke. Das wäre alles.«
Yuki hakte Cohen im Geiste ab. Er hatte die Schießerei zwar nicht mit eigenen Augen gesehen, aber er hatte den Geschworenen die Szene vor Augen geführt, hatte dafür gesorgt, dass das Bild des Blutbads sich in ihren Köpfen festgesetzt hatte - ein Bild, auf dem sie nun aufbauen würde.
Sie rief Bernard Stringer auf, den Feuerwehrmann, der mit angesehen hatte, wie Brinkley Andrea und Tony Canello erschoss. Stringer stapfte zum Zeugenstand und wurde vereidigt, ehe er Platz nahm. Er war Ende zwanzig, mit der offenen, ehrlichen
und naiv-zuversichtlichen Ausstrahlung eines Baseball-Idols.
»Mr. Stringer«, fragte Yuki, »was machen Sie beruflich?«
»Ich bin Feuerwehrmann im 14. Revier an der Ecke 26th und Geary.«
»Und warum waren Sie am 1. November an Bord der Del Norte ?«
»Ich bin ein Wochenend-Dad«, antwortete er lächelnd. »Meine Kinder sind ganz wild auf die Fähre.«
»Und ist an dem besagten Tag irgendetwas Außergewöhnliches passiert?«
»Ja. Ich habe die Schießerei auf dem Sonnendeck beobachtet.«
»Ist der Schütze heute hier im Saal?«, fragte Yuki.
»Ja.«
»Können Sie ihn uns zeigen?«
»Er sitzt da drüben. Der Mann in dem blauen Anzug.«
»Darf ich den Gerichtsschreiber bitten festzuhalten, dass Mr. Stringer auf den Angeklagten Alfred Brinkley gezeigt hat. Mr. Stringer, wie weit standen Sie von Andrea Canello und ihrem Sohn Anthony entfernt, als Mr. Brinkley auf die beiden schoss?«
»Ungefähr so weit wie Sie jetzt von mir. Anderthalb bis zwei Meter.«
»Können Sie uns schildern, was Sie sahen?«
Stringer legte die Stirn in Falten, als er sich den Tag der schrecklichen Bluttat ins Gedächtnis rief. »Mrs. Canello hat den Jungen zurechtgewiesen. Ich fand, dass sie ziemlich grob zu ihm war.
Verstehen Sie mich nicht falsch. Sie ist nicht ausfallend geworden. Aber der Junge wirkte eingeschüchtert, und ich habe schon überlegt, ob ich mich einmischen soll. Aber ich kam nicht dazu, irgendetwas zu sagen, weil der Angeklagte sie einfach niedergeschossen hat. Dann hat er den kleinen Jungen erschossen. Und dann ging an Bord alles drunter und drüber.«
»Hat Mr. Brinkley irgendetwas zu einem der Opfer gesagt, bevor er seine Waffe abfeuerte?«
»Nein. Er hat sie einfach der Reihe nach abgeknallt. Peng, peng . Eiskalt.«
Yuki ließ Bernard Stringers Worte eine Weile im Saal nachhallen, ehe sie sagte: »Nur um Missverständnissen vorzubeugen - als Sie gerade sagten ›eiskalt‹, da sprachen Sie nicht von den Temperaturen, oder?«
»Nein, sondern von der Art, wie er diese Leute umgebracht hat. Sein Gesicht war wie Eis.«
»Danke, Mr. Stringer. Ihr Zeuge«, wandte Yuki sich an den Verteidiger.
73
Yuki beobachtete, wie Mickey Sherman die Hände in die Hosentaschen steckte, und sie sah, wie das Licht, das von den eichengetäfelten Wänden reflektiert wurde, sein Gesicht in einen warmen goldenen Glanz tauchte. Sein Lächeln war gar nicht einmal so falsch, aber der lässige Gang, die Sprache des Mannes auf der Straße, die ganze unaufdringliche Art war auch eine raffinierte Tarnung, hinter der Mickey sein Talent für blitzartige Überraschungsangriffe verbarg.
Yuki hatte Sherman schon öfter aus nächster Nähe erlebt,
Weitere Kostenlose Bücher