Die 6. Geisel - Thriller
aber vorher erhaschte ich noch einen Blick auf Tenning, der in drei Metern Entfernung mit dem Rücken zur Wand stand.
Er hielt einen.38er Colt in beiden Händen und zielte auf uns.
»Sie nehmen mich nicht mit«, sagte er. »Ich bin zu müde, und ich packe das jetzt einfach nicht.«
105
Mein Puls schoss in die Höhe, und unter der Bluse rann mir der Schweiß herab. Ich schwang auf dem rechten Fuß herum, sodass ich mitten in der offenen Tür stand. Die Glock auf Tenning gerichtet, baute ich mich breitbeinig auf.
Obwohl ich eine schusssichere Weste trug, hätte er leicht einen Kopfschuss anbringen können. Und der papierdünne Gipskarton würde mein Team nicht schützen.
»Waffe fallen lassen, Sie Schwein!«, rief ich. »Sonst haben Sie ein Loch in der Brust, ehe Sie bis drei zählen können!«
»Vier bewaffnete Cops wegen eines Verkehrsdelikts? Das ist ja ein Witz! Halten Sie mich vielleicht für blöde?«
»Sie sind blöde, Tenning, wenn Sie wegen einer Fünfundvierzig-Dollar-Verwarnung sterben wollen.«
Tennings Augen zuckten von meiner Waffe zu den drei anderen Mündungen, die auf ihn gerichtet waren. »Mann, ihr geht mir echt auf die Eier«, brummte er.
Mit einem dumpfen Schlag landete seine Waffe auf den Dielen.
Sofort stürmten wir den kleinen Raum. Ein Stuhl kippte um, und eine Schreibtischplatte knallte auf den Boden.
Ich kickte Tennings Waffe Richtung Tür, während Conklin den Mann herumriss, ihn gegen die Wand stieß und ihm Handschellen anlegte.
»Ich verhafte Sie wegen Nichterscheinens vor Gericht«, stieß Conklin keuchend hervor, »und wegen Behinderung der Polizeiarbeit.«
Ich belehrte Tenning über seine Rechte. Meine Stimme war rau vom Stress - und weil mir plötzlich bewusst wurde, was ich getan hatte.
»Gute Arbeit, Leute«, sagte ich. Ich war davor umzukippen.
»Alles okay, Lindsay?«, fragte McNeil und legte mir seine kräftige Pranke auf die Schulter.
»Klar. Danke, Cappy«, erwiderte ich. Ich musste daran denken, wie leicht diese Verhaftung in einem Blutbad hätte enden können - und noch hatten wir nichts gegen Tenning in der Hand außer einem Verkehrsdelikt.
Ich sah mich in seinem Zimmer um, einem Kabuff von drei mal vier Metern mit einem Einzelbett, einer kleinen Kiefernholzkommode und zwei Aktenschränken, die als Stützen für seine Schreibtischplatte gedient hatten. Die lag jetzt auf dem Boden, zusammen mit einem Computer und einem Haufen verstreuter Papiere.
Und noch etwas war bei dem Handgemenge nicht an seinem Platz geblieben: Ein Rohr war unter dem Bett hervorgerollt.
Es war ungefähr vier Zentimeter im Durchmesser und fünfundvierzig Zentimeter lang, und an einem Ende war ein Kugelgelenk angeschraubt.
Zusammengesetzt ergaben die beiden Teile so etwas wie eine Keule.
Ich beugte mich herab, um es genauer in Augenschein zu nehmen.
In den Rillen des Gewindes, mit dem das Kugelgelenk am Rohr festgeschraubt war, erkannte ich einen schwachen braunen Fleck. Ich machte Conklin darauf aufmerksam, und er ging neben mir in die Hocke. Für eine Sekunde trafen sich unsere Blicke.
»Sieht aus, als wäre das Ding als Schlagwaffe benutzt worden«, sagte Conklin.
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Wir waren im Vernehmungsraum Nr. 2, dem kleineren von zweien, die uns im Dezernat zur Verfügung standen. Tenning saß am Tisch, mit dem Gesicht zum venezianischen Spiegel. Ich saß ihm gegenüber.
Tenning trug ein weißes T-Shirt und Jeans. Er hatte die Ellbogen auf den Tisch gestützt und den Kopf gesenkt, sodass das Licht der Deckenlampe ein sternförmiges Muster auf die kahle Stelle an seinem Hinterkopf malte.
Er redete nicht, weil er nach einem Anwalt verlangt hatte.
Es würde ungefähr fünfzehn Minuten dauern, bis sein Antrag zum Pflichtverteidiger-Büro durchgedrungen war. Und dann noch mal fünfzehn Minuten, bis irgendein Anwalt sich zu uns heraufbemühte.
Was immer Tenning bis dahin von sich gab, konnte nicht gegen ihn verwendet werden.
»Wir haben jetzt den Durchsuchungsbeschluss für Ihre Wohnung«, sagte ich zu ihm. »Dieses Rohr, mit dem Sie Irene Wolkowski und Ben Wyatt getötet haben, ist schon im Labor. Wir werden die Ergebnisse haben, noch bevor Ihr Pflichtverteidiger hier aufkreuzt.«
Tenning grinste. »Dann lassen Sie mich gefälligst in Frieden, bis er hier ist, okay? Lassen Sie mich mit meinen Gedanken allein.«
»Aber ich interessiere mich für Ihre Gedanken«, versicherte ich Tenning. »Diese ganzen Statistiken, die ich auf den Papieren in Ihrem Zimmer gesehen habe - worum geht’s
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