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Die Abenteuer des Joel Spazierer: Roman (German Edition)

Die Abenteuer des Joel Spazierer: Roman (German Edition)

Titel: Die Abenteuer des Joel Spazierer: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Köhlmeier
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das ist der wahre Grund meines Erfolgs, denke ich. Wie wird Leif reagieren, wenn er geschlagen wird? Wer alles ertragen kann, darf alles wagen. Leif bewundert dich. Er beneidet dich nicht, du bist sein Vorbild. Aber was dann? Du wirst studieren. Was wirst du studieren? Und wo? In Innsbruck? Oder in Wien? Oder in Zürich? Wie wäre es mit Harvard? Oder Yale? Oder Stanford? Ein junger Mann muss sehr talentiert sein, um an einer dieser amerikanischen Universitäten studieren zu dürfen. Und er muss viel Geld haben, sehr viel Geld. Ich habe sehr viel Geld, und ich habe die Chance, aus dir einen großen Mann zu machen. Ich bin der reichste Mann in diesem Land, und ich habe die Chance, der Welt etwas Gutes zu tun. Aber was rede ich! Du hast mich zum Nachdenken gebracht, Master Anders Philip. Du hast mich zum Nachdenken gebracht, dafür bin ich dir dankbar. Man darf nicht dahinleben, ohne nachzudenken. Und du hast mich zum Nachdenken gebracht.« – Wobei ich nicht die geringste Ahnung hatte, wie ich das angestellt haben könnte. Außer »Ja«, »Nein« und »Weiß nicht« habe ich in seiner Gegenwart kaum etwas von mir gegeben.
    Wenn wir einander von nun an begegneten, sagte er, unseren kleinen philosophischen Nachmittag habe er nicht vergessen. Und ich setzte ein entsprechendes Gesicht auf – ein Gesicht, das ich für ein entsprechendes hielt.
     

7
     
    Mit Frau Lundin habe ich nur einmal gesprochen – ich meine, mit ihr allein –, am Samstag vor Pfingsten 1965. Ich war mit dem Bus hinüber nach Liechtenstein gefahren. Weil ich Lust auf Geld hatte. Aber Leif war nicht da. Er war mit seinen beiden Schwestern und seinem Vater über die Feiertage nach Mailand unterwegs; ich hatte es vergessen. Als ich unten am Eisentor stand, fiel es mir wieder ein, aber ich hatte schon geklingelt. Frau Lundin war allein im Haus. Sie sah mich durchs Fenster und rief mir zu, ich solle heraufkommen. Aus Übermut rief ich zurück, sie solle herunterkommen , ich lade sie zu einem Eis ein. Ich hörte, wie sie jauchzte. Sie stöckelte über die Stufen, die Knie eingeknickt, als balanciere sie über etwas Weichem. Die Haare trug sie offen, den Schlüsselbund schwenkte sie um einen Finger.
    »Wo auch immer, nur bitte nicht hier in Liechtenstein!«, raunte sie mir gespielt verschwörerisch durch das Gitter zu, ehe sie öffnete.
    Wir fuhren in ihrem MG Midget (grün, offenes Verdeck, Speichenräder), ich legte den Ellbogen ins Fenster, und sie gab mir eine Sonnenbrille. Sie hatte eine ganze Sammlung im Handschuhfach. Diese sei die gleiche, wie sie der Polizist in Hitchcocks Psycho trage, sagte sie. Ob ich den Film gesehen hätte. Hatte ich nicht. Wir fuhren über die Grenze nach Feldkirch und zur Schattenburg hinauf und setzten uns in das Café neben dem Minigolfplatz. Es war viel los, Männer, Frauen, Kinder warteten, bis sie bei den jeweiligen Bahnen drankamen, den Schläger in den Händen. Frau Lundin bestellte einen Eiskaffee, ich ein großes gemischtes Eis. Sie könne keine unwichtigen Sachen von sich geben, sagte sie, dafür fehlten ihr die unwichtigen deutschen Vokabeln, sie koche gern und backe gern, ihr Mann aber meine, sie habe es nicht nötig, zu kochen und zu backen, er wolle nicht für Personal bezahlen, das nur herumstehe. Ich sagte, ich koche und backe auch gern.
    Sie war ziemlich wuchtig in den Schultern, das war mir bisher nicht aufgefallen, ich hielt es nicht für unwahrscheinlich, dass sie zuschlagen konnte.
    »Ich habe mich entschlossen, nicht mit nach Mailand zu fahren.« In gebeugter Haltung saß sie mir gegenüber, den Eisbecher zwischen ihren Unterarmen, und sah mich an. »Das war Intuition, ich habe gewusst, es würde heute etwas passieren.« Sie rückte den Sessel näher heran, berührte mit ihren Fingerspitzen meine Brust, atmete mir Kaffeeduft ins Gesicht: »Janna erzählte mir heute Morgen einen Traum. Darf ich mit dir darüber sprechen, Andres? Ich möchte so gern.«
    »Ja, Frau Lundin«, sagte ich.
    »Und ich langweile dich wirklich nicht?«
    »Nein, Frau Lundin«, sagte ich.
    Ihr Mund war klein, und wenn sie die Lippen geschlossen hielt, schien er höher als breit. »Janna«, sagte sie, »wachte um sechs auf und weckte mich, und wir setzten uns in die Küche. Sie hat geträumt, sie steht mit ihrer keinen blauen Leiter am Bahnhof in Kopenhagen und wartet auf mich. Die hatte ihr Herr Wohlwend gebastelt, als sie vier war, weil sie so gern überall hinaufgestiegen ist. Erst ist die Leiter klein, aber jedes Mal, wenn

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