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Die Abenteuer des Joel Spazierer: Roman (German Edition)

Die Abenteuer des Joel Spazierer: Roman (German Edition)

Titel: Die Abenteuer des Joel Spazierer: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Köhlmeier
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verhungern. Leif züchtete in seinem Labor einen Proteinteig, der sich beliebig verarbeiten ließ, zu Brotähnlichem, Brei oder Fleischähnlichem, der nahrhaft und vitaminreich war und in großen Mengen und billig produziert werden konnte. Und zunächst schien sich alles nach seinen Wünschen zu entwickeln. Er gewann Robert Mugabe, den damaligen Ministerpräsidenten von Simbabwe, für sein Projekt, der ihm in Mutare, direkt an der Grenze zu Mosambik, ein Areal (umgeben von einem Wald lila blühender Bäume) zur Verfügung stellte. Leif traf mehrere Male mit Mugabe zusammen, beschrieb ihn als einen gebildeten Mann, dessen Pläne für sein Land und für Afrika realistisch und moderat seien und sich von den radikalen Träumereien eines Nelson Mandela unterschieden. Zum letzten gemeinsamen Mittagessen habe ihn der Ministerpräsident auf Schwedisch begrüßt: »Jag hoppas, min vän, att Du tycker om struts-kött piri piri!« – »Ich hoffe, mein Freund, Sie mögen Straußenfleisch Piri Piri!« Leif widmete all seine Zeit und Energie diesem Projekt, er gründete eine internationale Hilfsorganisation, die auf der ganzen Welt Spenden sammelte, 1988 wurde brain to eat , wie sich die Organisation inzwischen nannte, für den alternativen Nobelpreis vorgeschlagen.
    Leifs Plan ging nicht auf. Er verlor einen Großteil seines Vermögens. Mitte der neunziger Jahre wurde sein Betrieb von Mugabe enteignet und er des Landes verwiesen. Zur gleichen Zeit wurde in Deutschland gegen ihn wegen Spionage für die ehemalige Sowjetunion ermittelt, zu einer Anklage kam es nicht. Seine Frau reichte die Scheidung ein. Heute lebt Leif mit seiner zweiten Frau, einer Dänin, in Kopenhagen und verwaltet, was vom Erbe seines Vaters übrig geblieben ist.
    Was wäre aus ihm geworden, hätte er mich nie kennen gelernt?
    Sein älterer Sohn, John Künzel (nach der Scheidung der Eltern hat er den Familiennamen seiner Mutter angenommen), ist deutscher Abgeordneter für die Grünen im EU-Parlament; sein jüngerer Sohn Walter (ich weiß nicht, ob Künzel oder Lundin) unterrichtet an einer Schule in Overath bei Köln.
    Übrigens: Es war kinderleicht, Leifs Mitschülern den »Gelben« auszureden. Nach zwei Wochen war er »der Lundin«. Ich hatte mit jedem einzelnen aus seiner Klasse gesprochen, hatte gesagt: »Der Lundin möchte nicht ›der Gelbe‹ genannt werden. Ich möchte es auch nicht.« Mehr war nicht nötig gewesen. Das Mädchen, dessen Mund sich beim Lächeln zu einer Welle verzog – sie hieß Edith –, bat ich ein zweites Mal darum; aber nur, weil ich wieder diese radikale Abneigung gegen Leif in ihrem Blick sehen wollte; und weil ich ihr zeigen wollte, dass ich diese Abneigung teilte.
     
    Oder Leifs Schwester Olivia – sie hat mich von Anfang an durchschaut. Ich spürte, dass sie mich durchschaute, aber ich wusste nicht, was sie sah oder was überhaupt zu sehen gewesen wäre. Sie war ihrem Vater ähnlich, hatte den gleichen wuchtigen, gedrungenen Körperbau. Im Schulhof stand sie allein. Im Frühjahr 2000 war ihr Name – Olivia Marxer-Lundin – häufig in der Presse zu lesen; sie wurde zu Talkshows ins Fernsehen eingeladen, einmal bei einem bekannten deutschen Moderator, diese Sendung habe ich zufällig gesehen. Sie war inzwischen sechsundvierzig, hager im Gesicht, Kleidung und Frisur nahe am Exzentrischen. Sie war Anwältin in einem sensationellen Prozess gewesen und hatte sich die Feindschaft der halben Nation zugezogen. Sie hatte den Entführer des vierjährigen Bankierssohns Frido Zethrin verteidigt. Der Fall erregte die deutsche und internationale Öffentlichkeit über Monate. Geld war nie gefordert worden, das Kind war nie gefunden worden. Der Angeklagte behauptete, es lebe, aber er wisse nicht wo und nicht unter welchen Umständen. Olivia trat vor Gericht sehr offensiv auf, manche Kommentatoren meinten, auf skandalöse Weise politisch und untergriffig, in Andeutungen auf bekannte Persönlichkeiten verweisend und sich immerzu am Rand des Strafbaren bewegend. Sie behauptete, hohe Politiker, Industrielle, Zeitungsherausgeber, Medienmogule, Vertreter von Justiz und Kirchen steckten hinter der Entführung, man habe es mit der Parallelgesellschaft eines gigantischen Kinderpornorings zu tun. Der Talkmaster fragte sie, warum sie Juristin geworden sei. Sie antwortete mit einem Zitat: »Wer die Menschen fürchtet, liebt das Gesetz.«
     

6
     
    Der Vater – Per Albin Lundin – veröffentlichte 1989 seine Memoiren. Als er ein Jahr später

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