Die Abenteuer des Joel Spazierer: Roman (German Edition)
landet das Leben, vom Leben selbst verdaut, tatsächlich im Arsch.
Irgendwann Ende März 1965 bat er mich, ihn auf einem Spaziergang zu begleiten. Die Nachmittagssonne schien durch den Dunst, und Herr Lundin wollte mit mir diesmal nicht über Geld und Zukunft, sondern über den »Sinn des Lebens« sprechen.
Als wir mitten im Ried aus seinem Mercedes stiegen, war er sehr verlegen und stammelte, die Welt sei eigentlich zu groß, um über sie nachzudenken, und wenn er ehrlich sei, habe er keine Vorstellung, was für einen Sinn das Leben haben könnte, und meistens sei ihm das auch wurscht. Aus dem weichen moosigen Boden spitzte das erste Gras, hellgrün, unsere Schuhe und die Säume unserer Hosen wurden feucht. Ich rechnete damit, dass er mir gleich sein Leben erzählen würde, die Blüten seiner Sünden , wie ich es bei der Beichte in Tschatralagant getan hatte. Ein bisschen erzählte er, aber seine Sünden erzählte er nicht. Er gab mir noch einmal hundert Franken – weil ich so ausdauernd mit Leif lerne. Ich solle darauf achten, dass ich meine Natürlichkeit nicht verliere. »Natürlichkeit ist ein großes Geschenk«, sagte er, seine Augen flitzten dabei über mein Gesicht, »das ist wie Anlauf nehmen beim Weitsprung, wer sie besitzt, dem wird erlaubt, Anlauf zu nehmen, wer sie nicht besitzt, muss aus dem Stand springen.«
Wir gingen ein paar Schritte, er rauchte vier Zigaretten hintereinander, dann fuhren wir zurück. Wie er das Lenkrad hielt und vor sich hin, erst auf die Wiese, dann auf die Straße, starrte, erschien er mir als der traurigste Mann auf der Welt; als wäre ihm gerade die Erkenntnis gekommen, dem größten aller Schwindel aufgesessen zu sein.
Er fuhr an der Auffahrt zu seinem Anwesen vorbei, sagte, es würde mir sicher recht sein, wenn er mich nach Hause bringe. Immer wieder schickte er Seufzer gegen die Windschutzscheibe. Die Beamten an der Grenze kannten ihn, sie winkten ihm schon von weitem zu und winkten ihn stolz lächelnd durch. Er blieb trotzdem stehen, kurbelte das Fenster herunter, nannte einen der Uniformierten beim Namen und fragte ihn, wie es seiner Frau gehe. Der gehe es wieder blendend, bekam er zur Antwort. »Danke, dass Sie nachgefragt haben!« – »Richten Sie ihr schöne Grüße von mir aus!« – Eine Weile lächelten seine Lippen, als wir weiterfuhren, aber bald kamen wieder die Seufzer. In Feldkirch parkte er in der Marktstraße vor unsrem Haus. Wahrscheinlich hatte ihm Leif irgendwann gesagt, wo wir wohnen. Die Hände behielt er lange auf dem Lenkrad.
»Ich kann«, sagte er endlich, »ich kann einen großen Mann aus dir machen. Es muss eine Freude sein, in einen Menschen zu investieren, der es wert ist. Ich habe diese Freude nie erlebt, aber ich würde sie gern erleben. Ich bin überzeugt, dass deine Eltern alles für dich tun, was ihnen möglich ist. Aber ich denke, mir ist mehr möglich. Nur, sag mir, was fange ich mit meiner Sehnsucht nach dieser Freude an? Dem Menschen werden Chancen gegeben, aber ich glaube, es werden ihm nicht sehr viele Chancen gegeben. Darum ist es wichtig, sie zu erkennen. Manche meinen, sie hätten nie eine Chance gehabt, aber wenn man ihr Leben gründlich untersuchen würde, könnte sich herausstellen, sie haben sie nur nicht erkannt. Andere halten für ihre große Chance, was in Wahrheit der Weg in ihr Verderben ist. Nimm als Beispiel den Fall von Oberst Stig Wennerström, über den zurzeit die schwedischen Zeitungen berichten, als gäbe es nichts anderes auf der Welt als den Prozess gegen diesen Mann. Er hat sein Land an die Sowjets verraten, weil er glaubte, damit der Welt einen Gefallen zu tun. Dass man etwas Böses tut, um etwas Gutes zu tun – kann das in einen Kopf hineingehen? Sie werden ihn wahrscheinlich lebenslänglich einsperren, und wer weiß, womöglich muss Tage Erlander den Hut nehmen. Weißt du, Anders, ich habe Angst, Leif könnte mich enttäuschen. Er sagt, du überflügelst jeden in der Klasse an Intelligenz und Klugheit, und das glaube ich ihm gern, ich beobachte dich nun auch schon seit einiger Zeit. Du wirst in ein paar Jahren mit Auszeichnung, bestimmt als Klassenbester, die Matura absolvieren, daran zweifelt niemand. Du könntest eine Klasse überspringen und Leifs Banknachbar werden, das lässt sich arrangieren. Ihr würdet gemeinsam zur Matura antreten. Du wirst der Bessere sein. Leif besitzt einen weichen Charakter. Du nicht. Ich glaube, du kannst sehr viel ertragen. Ich bin ein recht passabler Menschenkenner,
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