Die Abenteuer des Joel Spazierer: Roman (German Edition)
und sie benutzte den Stoff meiner dunkelbraunen Jacke mit den Schulterklappen, um mir die Nachricht zu überbringen, ich solle keine andere Last auf mich laden als ihre Wärme.
»Ja«, sagte ich, »das will ich gern, Frau Lundin. Ich will gern auf Janna aufpassen, wenn ich ihr irgendwann in meinem Leben begegne.«
Weitere viele Jahre später, nachdem ich sie so lange gesucht und endlich wiedergefunden hatte und wir im Zug durch Mexiko fuhren, was ihr größter Wunsch gewesen war, in dem berühmten El Chepe von Los Mochis nach Chihuahua, und wir über alles Mögliche redeten, eben auch über ihren Kindertraum von der blauen Leiter, an den sie sich noch als vierzigjährige Frau in jeder Einzelheit erinnerte (sie wusste natürlich nicht, dass mir ihre Mutter davon berichtet hatte), und wir aus dem Fenster schauten, hinunter in die Schluchten der Barranca del Cobre, in den Kupfer-Canyon, an dessen Flanken wir entlangfuhren und den wir immer wieder auf schmalen Holzbrücken querten, was mich in einen erregenden Schauder versetzte, denn mir war, als schwebten wir, und sie mir, unbeeindruckt vom Schwanken der Waggons, ein botanisches Büchlein in der Hand, das sie in einer deutschen Bibliothek in Mexico City geklaut hatte, die Flora erklärte, die weißstämmigen Elefantenbäume, die Boojum, die sich wie zwanzig Meter hohe Gespensterfinger in den Himmel krallten, die mexikanische Blaupalme, die verschiedenen Kakteenarten – als endlich ein Friede war, den ich als Friede deutete und nicht als letztes Luftholen vor der letzten Katastrophe; da erinnerte ich mich an Meister Eckhart und dass er gepredigt hatte, die Seele werde nicht alt, manche Kinder hätten die Seele eines Greises und manch alter Mann und manch alte Frau die Seele eines Kindes, und ich wühlte in meinem Rucksack und holte das Buch mit seinen ausgewählten Predigten und Traktaten heraus, das ich in einer Bibliothek in Berlin geklaut hatte. Deine Seele, Janna, sagte ich, ist für immer so alt wie das kleine Mädchen mit der Leiter am Bahnhof von Kopenhagen, und sie ist bemalt wie deine Brust und dein Rücken. Sie fragte, ob ich immer noch glaube, dass sie gesund werde, und ich sagte, ja, das glaube ich. Ja, das glaube ich, Janna, und verzeih mir alle bösen Worte, die ich je zu dir gesagt habe. Aber du hast ja recht gehabt, sagte sie. Verzeih mir, sagte ich. Verzeih du mir auch, sagte sie. Ich habe in meine Hände gehaucht und habe sie an ihre Ohren gelegt … – Aber all das würde erst in einer weiten Zukunft geschehen.
»Versprichst du mir das, Andres?«
»Ja, Frau Lundin.«
»Gibst du mir deine Hand darauf?«
»Ja, Frau Lundin.«
Wir reichten uns die Hand über Eisbecher und Eiskaffee hinweg. Sie hielt sie fest.
»Versprich es bei dem Gott.«
Ich versprach es.
»Weißt du, wer der Gott ist, Andres?«
»Nein.«
»Ich weiß es auch nicht. Die Engel wissen es und die Tiere. Ich glaube, die Tiere wissen es auch. Was meinst du?«
»Weiß nicht.«
Im Züricher Zoo hatte ich mich mit einem Gorilla unterhalten, er hatte mir nahe an den Käfigstäben zugehört und mir geantwortet, sehr leise, kaum zu verstehen, ich habe seine Worte mit Kuli auf meinen Hemdsärmel geschrieben und rätselte seither an ihnen herum. Immer wieder nahm ich mir vor, noch einmal nach Zürich zu fahren, um dem Tier mit den mächtigen Gesäß- und Beinmuskeln und dem silbernen Rücken mitzuteilen, was für Überlegungen ich über seine Worte angestellt hatte.
»Bin ich komisch?«, fragte Frau Lundin.
»Nein.« Dachte: Weiß nicht.
»Eigenartig?«
»Nein.« Dachte: Weiß nicht.
»Verrückt?«
»Nein.« Dachte: Weiß nicht.
»Du hast es versprochen«, sagte sie. »Weißt du, was das bedeutet?«
Sagte: »Weiß nicht.«
»Dass Janna von nun an in diesem Versprechen wohnt. Weißt du, was passiert, wenn du dein Versprechen brichst, Andres?«
Sagte: »Weiß nicht.«
»Du wirst kein gutes Leben haben, wenn du das Versprechen brichst. Und Janna auch nicht. War es ein Fehler, dass ich dir dieses Versprechen abgenommen habe, Andres?«
Sagte: »Weiß nicht.«
Was wusste ich noch nicht? Zum Beispiel, dass Chruschtschow in Moskau immer mehr an Boden verlor und seine Verbündeten im ZK aus ihren Ämtern gedrängt wurden, dass Leonid Breschnew die endgültige Entmachtung des Kremlchefs vorbereitete und die Rehabilitierung jener Ärzte verschoben oder unterbunden wurde, die kurz vor Stalins Tod wegen Hochverrats und absichtlicher Fehlbehandlung mit Todesfolge an hohen Herren der
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