Die Abenteuer des Joel Spazierer: Roman (German Edition)
Frau Lukasser bedanken, dass ich bei ihnen wohnen dürfe, und Herr und Frau Lukasser würden nicht wissen, wovon sie redete.
Am Abend in der Gemeindegutstraße trat ich vor die beiden hin, überbrachte die Einladung meiner Eltern, setzte mein Lächeln auf, und ohne eine Pause zu lassen oder den Tonfall zu ändern, fügte ich hinzu: »Ich habe heute meine Eltern angelogen. Sie wollen gemeinsam mit mir zehn Tage nach Italien in den Urlaub fahren, ich aber möchte lieber hierbleiben und Ihnen helfen. Ich sagte, Sie hätten mir angeboten, in dieser Zeit bei Ihnen zu wohnen. Nun bitte ich Sie, mich aufzunehmen und vor meinen Eltern so zu tun, als hätten Sie Ihr Angebot gestern schon ausgesprochen.«
Irgendwann erzählte mir Sebastian, warum sein Vater nur selten lachte. Lachen verleite dazu, unvorsichtig zu sein, er aber müsse in jedem Moment seines Lebens vorsichtig sein, damit ihn der Alkohol nicht wieder packte. Nun lachte Herr Lukasser, und er konnte sich lange nicht beruhigen.
Frau Lukasser sagte: »Uns ist’s recht.«
In dieser Nacht schlief ich bei Sebastian in dessen neuem Zimmer – es war das erste, das fertig geworden war. Wir spielten Schach und redeten, bis die Sonne aufging. Ich sei der aufrichtigste Mensch, dem er je begegnet sei, sagte er.
»Nein«, sagte ich.
Die Buße für ein mögliches Versagen würde sein, nur von den Lundins und Leuten ihres Schlages zum Freund begehrt zu werden.
9
Am letzten Ferientag im September fuhren Sebastian und ich mit dem Zug nach Zürich, um den Zoo zu besuchen. Ich hatte ihm von den Gorillas im Menschenaffenhaus erzählt und dass ich mit dem mächtigsten, dem »Silberrücken«, nah am Käfig gesprochen und er mir in seiner Sprache geantwortet habe. Wir studierten die halbe Nacht über den Aufzeichnungen, die ich von meinem Hemdsärmel in ein Heft übertragen hatte. Es waren Worte! Sebastian glaubte mir, dass ich die Geschichte nicht einfach erfunden hatte. Es waren nicht irgendwelche sinnlosen Laute, es waren Worte. Bestimmte Anordnungen von Vokalen und Konsonanten zu Silbenreihen kamen mehrmals vor – zum Beispiel »Ham-o-üo-wa« oder »Hu-hu-mosch«; und dies war für mich ein Indiz, dass es sich um Worte handelte oder wortähnliche Gebilde, was wiederum den Schluss zuließ, dass wir es mit einer Sprache zu tun hatten. Ich erklärte Sebastian, dass mit Hilfe dieser Methode, nämlich nach überdurchschnittlicher Häufigkeit von Silben und Silbenkombinationen zu suchen, die ägyptischen Hieroglyphen entziffert worden seien; belehrte ihn weiters, dass Hieroglyphen »Gottesworte« bedeuteten und dass dieses Verfahren zum ersten Mal beim Stein von Rosette angewendet worden sei, einer Tafel, in die ein Schreiber vor über 2000 Jahren nicht, wie von den Wissenschaftlern erwartet und erhofft, irgendwelche Gebete oder Zauberformeln oder eine Weltanschauung oder tatsächlich Gottesworte gemeißelt habe, sondern einen Erlass über Steuererleichterungen für Soldaten und Beamte. Ich wusste auch, wie der Mann hieß, dem die Entzifferung dieser Schrift gelungen war: Jean-François Champollion.
»Als er nicht viel älter war als wir beide, Sebastian, konnte er Griechisch, Latein und Hebräisch fast ohne Wörterbuch lesen und Arabisch, Spanisch und Türkisch fließend sprechen. Seit seiner Kindheit hatte er nur ein Ziel: Er wollte wissen, was auf dem Stein von Rosette steht. Er hat Tag und Nacht gearbeitet, hat diese Methode erfunden, ist dabei fast blind geworden, hat dauernd Kopfweh gehabt und ist oft ohnmächtig geworden und hat es endlich geschafft und war bitter enttäuscht, dass da nur eine Mitteilung vom Finanzamt zu lesen war. Aber immerhin hatte er auf diese Weise Altägyptisch gelernt, und er brachte von nun an anderen Wissenschaftlern Altägyptisch bei. Und bald konnte man auch andere Sachen lesen, die man vorher nicht hatte lesen können.«
»Auch Gottesworte?«, fragte Sebastian.
Ich war glücklich, in seinem Gesicht Interesse zu sehen – für die einzige Sache, über die ich mehr wusste als er. Er schlief auf einer Matratze am Fußboden, ich in seinem Bett. Wir wechselten Nacht für Nacht ab. Durch das offene Fenster wehte die kühle Nachtluft, ich konnte Sterne sehen zwischen den Zweigen des Nussbaumes, der neben der Scheune wuchs, und hörte ein Käuzchen rufen und hörte Sebastian durch die Nase atmen und hörte die Dachbalken knacken und hörte in meinen Ohren die Niagarafälle und das Rufen fröhlicher Menschen an ihren Ufern.
Wir
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