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Die Abenteuer des Joel Spazierer: Roman (German Edition)

Die Abenteuer des Joel Spazierer: Roman (German Edition)

Titel: Die Abenteuer des Joel Spazierer: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Köhlmeier
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in den Stamm der Buche, die sich hoch über das Haus erhob.
    Von nun an wollte ich mit den Lundins nichts mehr zu schaffen haben.
     

8
     
    In diesem Sommer lernte ich Sebastian Lukasser kennen. Er stand eines Mittags vor der Tür. Herr Professor Reichert – unser Lateinlehrer und Klassenvorstand – habe mich ihm empfohlen, sagte er. Ich sei erstens auch ein Wiener, zweitens der Zuverlässigste aus der Klasse, um ihn kompetent über den Stand des Lernstoffs zu informieren. Sebastian und seine Eltern waren am Beginn der Ferien von Wien nach Vorarlberg übersiedelt, seinem Vater war eine Stelle als Musiklehrer an unserem Gymnasium angeboten worden.
    Ich hatte Krautfleckerln gekocht, es roch lecker aus der Wohnung heraus, und ich lud ihn zum Essen ein. Er half mir, den Salat zuzubereiten, viertelte die Tomaten, während ich die Zwiebeln hackte. Wir redeten über Griechisch und Latein, über Mathematik und Physik und über Literatur. Er war ein Stück kleiner als ich, stämmig in den Schultern, hatte einen runden Kopf und war in der Lage zu sagen, was er sagen wollte. Ich brauchte mir weder Interpretationen zurechtzuzimmern noch Halbausgesprochenes laut oder still zu ergänzen. Wie ich lernte er gern, und wenn ihn an der Schule etwas störe, dann, dass zu wenig Stoff angeboten werde. Er hätte gern mehr über Literatur erfahren oder über Geschichte. Mathematik war sein Lieblingsfach. Allein in der Mathematik, erklärte er mir, könne man seriös von einem Beweis sprechen und sonst nirgends im Leben, auch nicht in der Kriminalistik und in der Juristerei. Ich sagte, mir mache Geometrie am meisten Freude, zum Beispiel die Berechnung jedes beliebigen Punktes mit Hilfe der Koordinaten x/y/z. Er stimmte mir zu. Damit lasse sich Himmel und Erde berechnen.
    Seine Eltern hatten in einem Dorf in der Nähe ein Haus gemietet, das lag nicht weit von der Ill und den Auwäldern entfernt, wo ich so gern spazieren ging. Nach dem Essen sagte ich, ich würde ihn nach Hause begleiten, und es stellte sich heraus, dass er den Auwald schon recht gut kannte, weil er ebenfalls ein Spaziergänger war.
    Wir gingen in schnellem Schritt an der Ill entlang bis zu ihrer Mündung in den Rhein, wo das Grenzhäuschen stand und meine Juxte begraben lag, setzten uns auf einen der großen Felsbrocken im Wasserfall und ließen uns die Sonne ins Gesicht scheinen. Sebastian erzählte mir, dass er Schriftsteller werden wolle oder Musiker wie sein Vater; dass er normalerweise in den Ferien arbeite, diesmal aber nicht, weil er zu Hause beim Umbau helfe; dass seine Mutter bei der Arbeiterkammer eine Stelle bekommen habe, eine ähnliche wie in Wien, wo sie für die Gewerkschaft tätig gewesen sei; dass sein Vater ein Jahr in Amerika gelebt und mit den Größten des Jazz zusammengearbeitet habe, mit Wes Montgomery, Chet Baker, Joe Pass – keinen der Genannten kannte ich. Er lese zur Zeit Dostojewskis Schuld und Sühne und entdecke an sich selbst viel von der Hauptfigur Rodion Raskolnikow, was ihn beunruhige, aber eigentlich auch nicht, er stelle es sich wunderbar vor, wie Raskolnikow zu sein, aber eigentlich auch nicht, denn es sei ein furchtbares Leben. Ich kannte auch Raskolnikow nicht. Er fuhr fort, aber das sei genau das Tolle an der Literatur, dass sogar das furchtbarste Leben einem großartig vorkomme, weil es in einem Buch erzählt werde. Genau das wolle er erreichen. Beim Jazz sei es ähnlich, sagte er. Die meisten Musiker führten ein furchtbares Leben mit Alkohol, Drogen und Schulden, aber wenn man ihre Musik höre, gehe es einem hinterher besser als vorher. Was ich davon hielte, fragte er. Ich sagte, dass mir bisher nie solche Gedanken durch den Kopf gegangen seien, dass ich es aber großartig fände, wenn einem solche Gedanken durch den Kopf gingen.
    Irgendwann hatten wir Hunger und machten uns im Licht des späten Nachmittags auf den Weg durch den Wald, der an den meisten Stellen licht war, der Boden mit Farnen bewachsen. Ich war immer nur auf den Wegen gegangen, Sebastian marschierte quer unter den Bäumen hindurch und über die moorigen Streuwiesen. Er wusste über Vögel Bescheid, wir tauschten unser Wissen aus. Wir hatten beide nie einen Eisvogel gesehen. Er erzählte mir von Wien, dass er und seine Eltern außerhalb vom Westbahnhof in der Penzingerstraße gewohnt hätten und dass er ein halbes Jahr bei seinem Paten in Innsbruck und ein halbes Jahr in Lissabon gelebt habe, als seine Eltern vorübergehend nach Kreta gezogen seien. Mir gefiel

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