Die Abenteuer des Joel Spazierer: Roman (German Edition)
Urknall zusammengepresst auf ein Kügelchen von einem Quadrilliardstel Millimeter Durchmesser, das ist eine Eins mit dreißig Nullen unter dem Bruchstrich.
»Glaubst du das alles?«, fragte ich erschöpft.
»Eigentlich nicht«, antwortete er. »Es ist so eine Angeberei, so eine elende Angeberei! Aber ich weiß , dass es stimmt.«
»Woher weißt du das?«
»Es ist wissenschaftlich bewiesen.«
»Wer hat es bewiesen?«
»Das weiß ich nicht.«
»Wer hat dir gesagt, dass es bewiesen ist?«
»Mein Pate.«
»Ist er glaubwürdig?«
»Ja.«
»Woher weißt du das?«
Wir fuhren an einem See entlang. So früh am Morgen waren schon Schiffe auf dem Wasser. Die Segel stachen wie winzige weiße Dorne in den Himmel. Die Männer und Frauen dort draußen, ob sie gerade frühstückten? Hatten sie frisches Weißbrot besorgt, ehe sie an Bord gegangen waren, ein Glas Honig, ein Glas Himbeermarmelade, ein Viertel Butter? Der Wind glitt über den See und riffelte das Wasser, das gegenüberliegende Ufer war dicht bewaldet und fiel ab in hellen Streifen Fels, dort war die Sonne noch nicht über dem Berg. Ich wäre gern auf eines der Boote eingeladen worden, zu einer frischen Semmel mit Butter und Honig, zu einer Tasse Kaffee mit Milch von Bärenmarke . Ich konnte nicht Henry Fords Erben im Schlaf hersagen, aber ich traute mir zu, jeden beliebigen Menschen wenigstens eine Stunde lang zu verzaubern. Als ich die Schiffe sah, so rein, so reich, beladen mit Zukunft, juckte es mich in den Fingern, neues Kapital anzulegen. Anstatt auf Sebastian zu hören, der mir von seinem Paten erzählte, was der für ein gebildeter Mann sei und was der erlebt habe, vor dem Krieg, nach dem Krieg, während des Krieges, und dass wir ihn über ein Wochenende in Innsbruck besuchen könnten, stellte ich mir vor, wie ich mir vom Herrn und von der Dame, beide in Weiß (und Claudines Mutter und Vater am Strand von Oostende nicht unähnlich), das Schiff zeigen ließe, die Kajüten in lackiertem Holz, die Bordküche, ausgestattet mit kupfernen Töpfen, und wie ich in günstigen Augenblicken in Jackentaschen und Schubladen griffe und Scheine herauszauberte und diese in meiner Faust zerknüllte. Und wäre zufällig Sebastian an der Promenade gestanden, ich hätte mich umgedreht und später behauptet, er habe sich geirrt. Und er hätte sich ebenfalls gedacht, er habe sich geirrt; denn was, bitte, hatte sein Freund mit diesen verwöhnten, unbrauchbaren Menschen zu tun, die ihre Zeit mit arrogantem Aussehen vergeudeten.
Erst vor wenigen Tagen hat mich Sebastian in einer Mail gefragt: »Wen siehst du vor dir, wenn du an den denkst, der du vor fünfundvierzig Jahren warst?« Ich habe eine halbe Nacht lang über die Wahrheit nachgedacht und mit einer Formulierung geantwortet, die mir ästhetisch gelungen erschien: »Ich sehe einen jungen Mann, der deutlich älter ist als seine Jahre, aber unschuldiger, als mit sechzehn einer noch sein kann; der keinerlei Vorstellung hat von dem, was auf ihn zukommt, kaum Wünsche; dem die Zwecke weniger wert sind als die Schönheit der Gesten, die den Zwecken scheinbar dienen.« Und habe mir gedacht: Auf diesen Menschen konnte man und kann man nicht bauen; von gemeinsamen Abenteuern musste und muss abgeraten werden. Sebastians Frage war eine von acht Fragen, die er seinem elektronischen Brief angefügt hatte mit der Bitte, sie ihm schriftlich zu beantworten, vorausgesetzt, ich wolle das. Er meinte, das schaffe Distanz – auch Distanz zwischen uns beiden –, und dies sei gut. Er nimmt meine Ambition, in einem Buch mir selbst über mein Leben Rechenschaft abzulegen, sehr ernst und hat – obwohl er das bestreitet – noch nicht den Gedanken aufgegeben, mir diese Arbeit abzunehmen und mich in eine Romanfigur zu verwandeln. Er ist ein komischer Heiliger, der – und auch das bestreitet er – felsenfest an die Heilkraft seiner Kunst glaubt. Tatsächlich Distanz schafft seine Anrede; er nennt mich Andres, nach wie vor Andres, an Joel will er sich nicht gewöhnen. Ich bin mir, wie am Anfang erklärt, rückblickend in keiner Phase meines Lebens fremd, ich sehe vom Vierjährigen bis zum Sechzigjährigen keine qualitative Veränderung; mein Name aber ist mir unpassend, nicht wie ein Hemd, aus dem ich herausgewachsen bin, sondern wie eines, das mir nie gehört hat. Das mag daran liegen, dass ich schon gut zwei Handvoll Namen in meinem Leben getragen habe; für Joel Spazierer habe ich mich aus freien Stücken und gleich zweimal entschieden, und
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