Die Abenteuer des Joel Spazierer: Roman (German Edition)
dabei möchte ich bleiben.
Sebastian hatte mir auf einem unserer Spaziergänge durch den Auwald bei Matschels von Jack London erzählt und von dem Roman Abenteurer des Schienenstrangs , in dem der Schriftsteller über sein Leben als Tramp berichtet. Er hatte mir Stellen daraus vorgelesen, die ihm besonders gefielen, zum Beispiel, als Jack vom Bremser eines Güterzuges erwischt und am Kragen gepackt wird und wie er schildert, was man tun muss, um sich zu befreien: Ich brauche nur den Kopf unter seinen Arm zu ducken und mich herumzudrehen. Ehe er es weiß, sitzen seine Finger, die mich jetzt festhalten, selber fest. Wenn ich mich zwanzig Sekunden lang gedreht habe, wird ihm das Blut unter den Nägeln hervorspritzen, die feinen Sehnen werden reißen und alle Muskeln und Nerven zerquetscht werden, bis alles eine einzige blutige, schmerzende Masse ist. Versucht es einmal, wenn euch jemand am Kragen hat! – Wir haben es ausprobiert und geübt. Man wisse nie, wofür das einmal nützlich sein könne, sagte Sebastian. Auch er lebte in der Zukunft, er konnte sich als Zwanzigjährigen imaginieren, als Dreißigjährigen; ich denke, selbst der sechzigjährige Schriftsteller, der er heute ist, mit seinem Hinkebein und seinem glücklich operierten Prostatakrebs, wäre ihm in seiner vorausblickenden Lebensübersicht kein Fremder gewesen. Aber, schrieb er mir in dieser Mail, wenn er zurückblicke , treffe er an jeder Station auf jemanden, den er in enervierender Arbeit erst umschreiben müsse, um ihn Ich zu nennen. Er neigt dazu, die Welt kurioser zu machen, als sie eh schon ist – ich nehme an, um sein eigenes Außenseitertum abzumildern. Einer wie ich, bei dem Leben und Ansichten so weit auseinanderklaffen, muss ihm unheimlich sein und auch ein Ärgernis; er verdächtigt mich der Mutwilligkeit, als wollte ich mit meinem Dasein irgendjemandem das Gegenteil beweisen, das Gegenteil von irgendetwas. Jack London, ich wette, wollte beweisen, dass er ein anderer Kerl war, als sein pummeliges Gesicht vermuten ließ. Ich war mit meinem Gesicht immer zufrieden gewesen; gerade, weil es so viele auf eine falsche Fährte führte.
Bald interessierte ich mich nicht mehr für die Segelboote und ob auf ihnen gefrühstückt wurde oder nicht und ob die Dame und der Herr in Weiß gekleidet waren und aussahen wie eine Dame und ein Herr am Strand von Oostende; ich hatte ein mulmiges Gefühl vor den kommenden Tagen, wenn wir uns wieder in der Schule versammelten und das neue Schuljahr begänne. Ich wusste nicht, wie ich den abwehren sollte, der Henry Fords Erben im Schlaf hersagen konnte – und ob ich ihn überhaupt abwehren wollte. Wenn Sebastian, dachte ich, wenn er alles über mich wüsste, würde er an allem zweifeln, am Ernst meines Denkens, an der Integrität meiner Art zu sprechen, an unserer Verbundenheit und auch an meiner Begegnung mit dem Häuptling der Gorillas.
»Jetzt könnten wir die zweite rauchen«, sagte ich.
Er zog die Zigaretten aus der Brusttasche seines Lumberjacks – die seiner Mutter, Smart Export –, zündete sie an, reichte mir eine herüber, und wir rauchten wieder zum Fenster hinaus.
»Es gibt die Zeit gar nicht«, sagte ich. »Die Zukunft ist noch nicht, die Vergangenheit ist nicht mehr, und die Gegenwart ist der ausdehnungslose Punkt, in dem Zukunft und Vergangenheit zusammenstoßen, sie existiert also ebenfalls nicht.«
Sebastian nickte, als hätte er gerade das Gleiche gedacht. »Und nicht einmal das«, sagte er. »Nicht einmal das. Denn der Punkt, in dem die Zukunft und die Vergangenheit zusammenstoßen, ist bei mir ein anderer als bei dir. Du stehst etwa dreißig Zentimeter von mir entfernt. Du schaust mich an. Was du siehst, geschieht aber nicht jetzt, sondern ist bereits geschehen. Das Licht braucht eine gewisse Zeit, um sich von meinem Gesicht zu deinen Augen zu bewegen. Diese Zeit kann man sich leicht ausrechnen.«
Und er rechnete sie aus. Ich borgte ihm dazu mein Heft und meinen Kuli (ich habe das Heft aufgehoben; ich sehe seine Handschrift auf Seite 6; den Eintrag auf Seite 8 habe ich in einem anderen Leben getan). In einer Sekunde legt das Licht 300.000 Kilometer zurück. Für drei Kilometer braucht es eine Hunderttausendstel Sekunde, für drei Meter eine Hundertmillionstel Sekunde und für dreißig Zentimeter folglich: »Was du in meinem Gesicht siehst«, sagte er, »ist seit einer Milliardstel Sekunde vergangen.«
»Und was bedeutet das?«
»Wahrscheinlich nichts.«
»Ich glaube«, sagte ich, »es
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