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Die Abenteuer des Joel Spazierer: Roman (German Edition)

Die Abenteuer des Joel Spazierer: Roman (German Edition)

Titel: Die Abenteuer des Joel Spazierer: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Köhlmeier
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bedeutet?«
    »Ich erinnere mich nicht mehr, was ich mir dabei gedacht habe.«
    »Ich hingegen weiß, was dieser Satz bedeutet. Ich weiß es besser, als Sie es je gewusst haben. Wahrscheinlich hatten Sie nie eine Vorstellung, was dieser Satz bedeutet.«
    »Möglich. Ich habe dazu keine Meinung.«
    »Wenn ich mich recht erinnere, hatten Sie vor fünfundvierzig Jahren zu den meisten Dingen eine sehr klare Meinung.«
    »So gut kannten wir einander?«
    Eine kleine Sorge war ihm damals gewesen, er könnte sich nach den Bekanntschaften mit Rodin Raskolnikow, Fürst Myschkin, Nastassja Filippowna Baraschkowa, Alexej Karamasow und dem Nihilisten Kirillow mit einem Freund aus wirklichem Fleisch und wirklichem Blut nicht zufriedengeben. Ich bin mir nicht sicher, ob er mich jemals als einen solchen hat gelten lassen.
    »Sehen Sie mich an«, sagte ich. »Wollen Sie mich verleugnen?«
    »Was für ein Wort!«, rief er aus. »Und warum bitte sollte ich das tun?«
    Ich trat etwas beiseite, mein Gesicht war nun in der Sonne. »Aus den bekannten Gründen.«
    Da wusste er, wer ich war.
    »Wie geht es deinem Auge?«, sagte ich. »Als wir uns das letzte Mal gesehen haben, hast du eine Augenbinde getragen.«
    Er sah mich an, dann nahm er meine Hand und drückte sie gegen sein Herz. »Es war eine Netzhautentzündung, nur etwas Kleines.«
    Er hat sich sofort daran erinnert.
    In den großen Sorgen seines Lebens – dem Alkoholismus seines Vaters; den Gefechten mit seiner Frau; der Trennung von seinem Söhnchen; der Angst vor dem Blutdruckmessgerät; den Panikattacken; dem schweren Autounfall in Vermont; seiner Morphiumabhängigkeit und dem Entzug mitten in den Badlands von North Dakota; Heimweh; Einsamkeit; als seine Mutter sich von der Welt abwandte; als sein Roman Nausikaa von der Kritik verrissen wurde; dem Krebs; dem Selbstmord des Vaters; dass Ronald Reagan einen Riesenblödsinn machen könnte; dass George W. Bush noch mehr Riesenblödsinn machen könnte; dass die Wolke von Tschernobyl bis in die Lunge seines Sohnes reicht; dass er selbst und seine Kunst nur Durchschnitt sein könnten; Krankheit und Tod seines Paten; dem Herzinfarkt von dessen Frau; dass ihm durch Aktienabstürze viel Geld verlorengegangen ist; dass eine rechtsradikale Partei ins österreichische Parlament gehievt wurde; als er sein Notizbuch verloren hatte; als er in North Dakota allein vor seiner Hütte stand und fürchtete, verrückt zu werden – hat mich Sebastian nicht vergessen.
     
    Der Silberrücken im Züricher Zoo gab mir übrigens nicht einen Blick.
     

10
     
    Bis in den November hinein hielt ich durch. Ich vermied es, mit Leif zu sprechen, stellte mich im Schulhof mitten in einen Kranz von Mitschülern, unterhielt mich mit ihnen so leise, dass sie nahe genug rückten, um den von draußen nicht zu mir durchzulassen. Er passte mich im Stiegenhaus vor unserer Wohnungstür ab, beschimpfte mich, weinte, roch sauer, versuchte mich zu erpressen, indem er drohte, sein Vater werde durchsetzen, dass ich von der Schule fliege, entschuldigte sich umgehend, bot mir Geld an, wedelte mit Frankenscheinen vor meinem Gesicht. Ich sagte, ich wolle nichts mehr von ihm wissen, ich hätte genug von ihm und genug von seiner Familie, ich hätte mich nie im Leben so unfrei gefühlt wie an den Nachmittagen in der Garage, außerdem hätte ich einen wirklichen Freund gefunden, einen intelligenten Freund, dem man nicht alles hundertmal erklären müsse, bis er es endlich kapiere. Er riss an meinem Ärmel, drohte, sein Vater werde durchsetzen, dass Sebastian von der Schule fliege und dessen Vater gleich mit ihm, dieser verrückte Musikmann, entschuldigte sich von neuem, flehte mich an, seine Beschimpfungen zu vergessen, er wolle sich ändern, sein Leben wolle er ändern, und schlug vor, er werde auch Sebastian als Freund akzeptieren, Sebastian Lukasser sei herzlich eingeladen, ebenfalls für Geld, versteht sich, in der Garage an den Fliegern zu basteln. Nicht um alles in der Welt würde ich jemals wieder diesen Ort betreten, sagte ich.
    Aber an einem Samstagnachmittag im November fuhr ich mit dem Bus nach Liechtenstein. Ich handelte eine neue Bezahlung aus, das Doppelte der alten, dazu belegten Pumpernickel und Limonade, die ich mir selber aus dem Kühlschrank holen durfte – bei welchen Gelegenheiten ich Frankenscheine aus der Tasse im Küchenkasten zog. Herr Lundin bezahlte mich wieder für Nachhilfe, nannte mich wieder »Master Anders Philip« und zeigte mir wieder den

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