Die Abenteuer des Joel Spazierer: Roman (German Edition)
Wasser abgewaschen und die Mütze aufgesetzt, die Pistole habe ich neben Frau Lundin auf den Boden geworfen und bin aus dem Haus und davon.
ZWEITER TEIL
FÜNFTES KAPITEL
… in dem Dispute geführt werden angesichts des Todes. (Am Ende auch über Meister Eckharts Satz: »Man findet wohl niemand, der nicht jemand so gern leben sähe, dass er nicht willig für ein Jahr ein Auge entbehren oder blind sein wollte, wenn er hernach sein Auge wiederhaben und seinen Freund so von dem Tode erlösen könnte.«)
1
Ich sah alle Lügen vor mir, als wären es Wege auf einer Landkarte. Keiner führte hinaus. Ich konnte nicht davonkommen.
Ich lief hinunter zu den Garagen, kletterte über das Tor und wandte mich nach links der Stadt zu. Jeder Schritt in diese Richtung würde einen Tag weniger, jeder Schritt in die andere Richtung einen Tag mehr Gefängnis bedeuten. Ich rechnete mit zehn bis zwanzig Jahren. Sebastians Vater hatte uns von einem Fall in Italien erzählt, wo ein Jugendlicher fünfzehn Jahre eingesperrt worden war, weil er einen Mann und eine Frau erschossen hatte, und von einem anderen Fall in der Stadt Swan Hill in Australien, wo zwei Freunde, so alt wie Sebastian und ich, eine Farmerin, deren Geld sie unbedingt haben wollten, mit einem Eisenrohr erschlagen und dafür sogar fünfundzwanzig Jahre bekommen hatten. Ich hatte nur einen Menschen getötet, Bebe habe ich nicht getötet – obwohl es mir sehr schwer gefallen ist und ich gegen dieses wohlige Gefühl, endlich einmal etwas Endgültiges zu tun, ankämpfen musste; und den einen Menschen hatte ich erschossen und nicht erschlagen; und jemanden zu erschießen, dachte ich mir, wird bestimmt weniger schwer bestraft, als jemanden zu erschlagen, weil beim Erschießen nur ein Finger einmal oder zweimal umgeknickt werden muss, was im Bruchteil einer Sekunde, also fast automatisch, geschieht.
Ich versuchte mir den Mann vorzustellen, der ich mit sechsundzwanzig und sechsunddreißig sein würde. Ich griff meine Taschen nach Dingen ab, die mich an mich selbst erinnerten. Die Geldbörse mit Schillingen und ein paar Schweizer Franken, meinen Fahrtausweis für den Bus. Meinen Personalausweis. Ein Taschentuch, das ich selbst gewaschen und selbst gebügelt hatte, meinen Schlüsselbund. Taschenlampe, Zirkel, Saugnapf. Der Mann mit sechsundzwanzig und der Mann mit sechsunddreißig würden diese Gegenstände auch nach zehn oder zwanzig Jahren einwandfrei als die ihren erkennen. Mir war, als gingen die beiden neben mir her. Sie waren stark und gesund, ihr Gang war schlendernd und geduldig, sie hatten keine Narben und hatten das Lachen nicht verlernt und verbrachten Tage, ohne an den zu denken, der sie vor zehn und zwanzig Jahren gewesen waren. Ich konnte tun, was ich wollte, erleiden, was andere wollten, sie würden bleiben, die sie waren; und wenn ich wieder frei sein würde, wäre ich der eine oder der andere. Ich erinnerte mich an die Weihnachtsfeiertage vor zwölf Jahren, als zum ersten Mal mein Vater bei uns aufgetaucht war und wir, nun tatsächlich eine Familie, in der Báthory utca um den geschmückten Tisch saßen, bis auf Opa, dem mein Vater auf der Ottomane die Kissen gerichtet hatte. Opa hatte gesagt, wenn einer in sich selbst noch andere sei, mit denen er reden könne, solche, die er irgendwann einmal gewesen sei oder irgendwann einmal sein werde oder zur gleichen Zeit sei, dann ertrage er vieles leichter, Dunkelheit, Durst, Einsamkeit, Schmerzen sogar. Nun wusste ich, was er damit gemeint hatte. Ein paar Schritte blieben die beiden an meiner Seite, dann ließen sie mich. Aber ich wusste auch, sie würden jederzeit wiederkommen, wenn ich nach ihnen riefe.
Eine Hälfte meines Gesichts war ohne Gefühl. Das Blut lief mir den Hals hinunter, übers Schlüsselbein, auf den Rippen spürte ich es, weiter unten versickerte es im Unterhemd. Aus einem Nasenloch rann Rotz, dünn wie Wasser, auch in die Kehle hinunter rann er und schmeckte, als gehörte er nicht zu mir, ich hatte zu wenig Spannung im Hals, um den Rotz auszuspucken, und schluckte ihn hinunter. Ich zog die Mütze auf der einen Seite bis zum Kinn, auch das Heben der Hände war nicht so einfach, wie es bisher gewesen war. Bei jedem Schritt hörte ich ein Geräusch, wie wenn in meinem Kopf zwei Steinplatten aneinanderkratzten. Ich hielt es für möglich, dass mein Schädelknochen gebrochen war, und traute mich nicht, den Kopf zu bewegen, und traute mich auch nicht, die Stelle abzutasten, auf die Bebe
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