Die Abenteuer des Joel Spazierer: Roman (German Edition)
mehrmals mit dem Kerzenleuchter eingeschlagen hatte. Für einen Moment hielt ich es sogar für möglich, dass ich erschlagen worden war und nicht Frau Lundin erschossen und dass alles, was ich nun erlebte, genau der katholischen Theorie von einem Leben nach dem Tode entsprach, über die ich mich immer gewundert und an die zu glauben ich mich eine Zeitlang wirklich bemüht hatte. Wussten die Toten, dass sie sich im Leben nach dem Tod befanden? Kein Auto war auf der Straße. Kein Licht in den Häusern, die weiter unten im Tal standen, dort hatten sie gestanden. Standen sie dort noch? Die undurchsichtige Dunkelheit und die Stille waren womöglich Einstimmungen auf das Jenseits, in das hinüber ich gerade unterwegs war und das ich mir, gleich wie die Zukunft, als ich mich vor langer Zeit mit dem reichsten Mann in diesem Land über sie unterhalten hatte, als ein Ich-in-Nichts phantasierte.
Endlich sah ich die Laternen am Ortseingang von Vaduz.
Ein Mann kam mir entgegen. Er trug einen langen dunklen Mantel und hatte einen Hut auf dem Kopf. Ich fragte ihn, wo in der Stadt die Polizei zu finden sei, meine Tante wohne nämlich in dem Haus gleich daneben – plapperte weiter, als hielten allein meine Worte die Zeit zusammen –, ich sei leider zu früh aus dem Bus gestiegen, ich wolle sie über die Weihnachtsferien besuchen, sie sei die Schwester meiner Mutter, ich sei heute Nachmittag mit dem Zug aus Wien angekommen, meinen Koffer hätte ich in Feldkirch am Bahnhof untergestellt, er sei so schwer wegen der Weihnachtsgeschenke, mein Onkel hole ihn morgen ab, ich sei das erste Mal in Liechtenstein. Ich sprach laut und deutlich und langsam und wandte dem Mann die heile Seite meines Gesichts zu. Er sagte, er wolle mich gern hinführen, er spaziere ohnehin nur in den Abend hinein, er könne genauso gut in die andere Richtung gehen, er freue sich, freundlich gefragt zu werden, das sei heutzutage nicht mehr selbstverständlich, heutzutage meine jeder, der andere wolle nichts von ihm wissen, aber das sei nicht wahr, die Menschen interessierten sich füreinander, der Mensch ohne Mensch sei nicht einmal ein Tier. Ich sagte, ich halte viel von Höflichkeit, meine Eltern hätten mich zur Höflichkeit erzogen. Ah, das glaube er nicht, sagte er und lachte dabei so fröhlich, dass mir vorkam, es werde ein bisschen wärmer, als fahre ein Föhnstoß zwischen uns beiden hindurch, was nicht sein konnte, denn die Temperatur hatte angezogen, und feiner Schnee fiel; er glaube nicht, dass die positiven Eigenschaften eines Menschen angelernt oder anerzogen seien, sie seien angeboren, sagte er. Das Gute müsse Krümel für Krümel gesammelt und über Generationen weitergegeben werden, oft müsse es vor dem Bösen versteckt werden, dann gebe es wieder Zeiten, da wolle jeder moralisch ordentlich sein, und andere Zeiten, da werde das Gute verdächtigt, ein besonders raffiniertes Böses zu sein, und diese ganze Prozedur sei nichts anderes als ein Umweg der Natur, um zu einem guten Menschen zu kommen. Was ich davon halte, er wolle gern meine Meinung wissen. Ich konnte sein Gesicht nicht erkennen, die Krempe seines Hutes legte einen Schatten darüber, das Licht der Straßenlaterne rückte uns nahe aneinander und hüllte uns in seinen schmalen Kegel. Ist das nicht ungerecht, sagte ich, so viele Menschen sind Diener eines einzigen. Nein, nein, nein, widersprach er und erklärte es mir, aber ich konnte nicht behalten, was er weiter ausführte, Blitze zuckten durch mein linkes Auge, und aus der Brust drängte etwas nach oben in meinen Hals, das sich wie ein Wollknäuel anfühlte, und ich musste höchste Konzentration aufbieten, es untenzuhalten. Für kurze Momente sah ich seinen Mund unter dem Schatten des Hutes, sah, wie sich die Lippen bewegten. Am Ende lachte er wieder und sagte, nun sei ihm doch noch ein guter Abend gelungen, und das verdanke er mir. Und mir ging es besser, die Blitze verschwanden, und mein Hals war frei. Der Mann breitete die Arme aus und beschrieb mir den Weg. Ich verneigte mich, aber nur ein wenig, damit mein Kopf nicht von den Schultern fiel, und dankte, und er verneigte sich ein wenig und dankte auch. Dann ging ich weiter.
Ich zwang mich, nicht zu taumeln. Ich nahm Zirkel und Lampe aus der Tasche, ließ sie zu Boden fallen und drückte sie mit dem Schuh in einen Gully, das Gleiche tat ich mit dem Saugnapf aus unserem Badezimmer – das ich nie wiedersehen würde. Sebastians Vater hatte gesagt, wenn die beiden Australier die alte
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