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Die Abenteuer des Joel Spazierer: Roman (German Edition)

Die Abenteuer des Joel Spazierer: Roman (German Edition)

Titel: Die Abenteuer des Joel Spazierer: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Köhlmeier
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bedeutet doch etwas.«
    Fünfundvierzig Jahre später haben Sebastian und ich dieses Gespräch fortgeführt; wir erinnerten uns beide sehr gut daran. Ich sagte: »Das bedeutet, dass wir allein sind.« Er sagte: »Ich habe dir damals angesehen, dass du genau das denkst, und ich war enttäuscht von dir. Es ist so unendlich spießig, das Universum als Metapher für unser Dasein herunterzuziehen, das tun alle.« Das Bebildern von Gedanken gehört in die Kindheit dieser Gattung; erwachsene Denkweise vollzieht sich in Begriffen. Sebastian war immer erwachsen. Ich berichtete ihm von einem Artikel, in dem ich erst vor kurzem gelesen hatte, dass sich das Universum höchstwahrscheinlich in alle Zukunft ausdehnen werde und dass in Milliarden von Jahren alle Sterne erloschen sein und die Temperaturen sich nahe dem absoluten Nullpunkt bewegen werden, dass sich die Himmelskörper so weit voneinander entfernt hätten, dass mit unseren Augen, die es dann freilich nicht mehr gebe, der Himmel schwarz und leer erschiene, und sagte: »Ich wäre gern spießig. Auch damals wäre ich gern spießig gewesen. Mein ganzes Leben lang wäre ich gern spießig gewesen« – »Das weiß ich«, sagte er, und ich glaube, er war beschämt.
     
    Wie Sebastian und ich uns wiedergetroffen haben, nach so vielen Jahren? Ich wusste, dass er in Wien lebte. Seit Mitte der neunziger Jahre lebte er hier. Ich habe das dem Klappentext eines seiner Bücher entnommen, und einmal hatte ich ein Porträt über ihn im Radio gehört, in dem er von seiner Zeit in Amerika und seiner Rückkehr nach Österreich erzählte. Ich hätte mich über den Verlag mit ihm in Verbindung setzen können oder über den Österreichischen Rundfunk oder über den PEN-Club oder eine der Interessensvertretungen. Dies wäre mir aber als zu mutwillig erschienen. Als ehemaliger (zwar nicht ordentlich aus dem Amt geschiedener) Inhaber eines Lehrstuhls für wissenschaftlichen Atheismus möchte ich an den zwingenden Zauber des Zufalls glauben. Was, wenn ich ihm einen Brief geschrieben und er mir nicht geantwortet hätte? Darauf wollte ich es nicht ankommen lassen. Anders als der rothaarige Präfekt aus dem Schülerheim Tschatralagant, dessen Beruf es war, an den Gott und an des Gottes Willkür zu glauben, halte ich den Zufall nicht für etwas Niedriges, sondern tatsächlich für eine Gnade, auf deren Blindheit zu vertrauen sich lohnen könnte. Und es hat sich gelohnt. Ende Februar letzten Jahres ging ich eines Mittags die Singerstraße hinunter, da sah ich im Fenster des kleinen italienischen Restaurants, in dem ich schon köstliche Spaghetti Aglio Olio e Peperoncino gegessen und einen toskanischen Rotwein getrunken hatte, Sebastian sitzen und sich mit einem Mann unterhalten. Letzterer gestikulierte lebhaft, Esprit und Intelligenz waren ihm anzusehen, er hatte eine entfernte Ähnlichkeit mit Groucho Marx. Ich stellte mich in den Eingang der Apotheke vis-à-vis und beobachtete die beiden. Sie waren befreundet, daran bestand kein Zweifel. Ich schätzte nicht, dass sie darüber hinaus geschäftlich miteinander zu tun hatten. Sie verabschiedeten sich vor dem Lokal, ohne einander die Hand zu geben, was den Eindruck von freundschaftlicher Vertrautheit verstärkte. Sebastian ging die Singerstraße hinunter, überquerte den Ring und betrat den Stadtpark. Ich folgte ihm. Am Vormittag hatte es geregnet, nun schien eine kräftige Sonne über der Stadt. Er setzte sich auf eine der Bänke, die dicht an dicht die Wege säumten, streckte die Beine aus, schloss die Augen und ließ sich das Gesicht wärmen. Dieser Tag hatte es mit den Zufällen! Es war nämlich gerade die Stelle, wo einige Monate zuvor der Herr Staatssekretär in meiner Gegenwart seinen Herzinfarkt erlitten hatte und ich ihm als ein Engel erschienen war; und bestimmt war das der Grund, warum ich in eine heilige Stimmung geriet – deren Pathos allerdings nur wenige Sekunden anhielt. Ganz ohne Spur wollte ich diese Stimmung aber nicht ziehen lassen; ich schlich mich an Sebastian heran, stellte mich vor ihn in die Sonne und sagte:
    »Wenn unsereinem Gott begegnete, wäre es unsereinem nur peinlich.«
    Er erschrak. Er war eingenickt. Mein Kopf war ein Schattenriss gegen die Sonne. Er erkannte mich nicht.
    »Es ist ein Zitat«, sagte ich. »Es stammt aus einem Ihrer Bücher, Herr Lukasser.«
    »Das ist mir schon klar«, sagte er.
    »Und was bedeutet dieser Satz?«
    »Ich habe keine Ahnung.«
    »Sie schreiben etwas und wissen nicht, was es

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