Die Abenteuer des Joel Spazierer: Roman (German Edition)
Zeit sei, dann ertrage er vieles leichter, Dunkelheit, Durst, Einsamkeit, Schmerzen sogar. Dann würden sich die Teufel nicht auskennen und umdrehen. Der Himmel aber würde sich immer auskennen und würde bleiben. »Im Himmel ist jeder von uns viele. Das glaube ich, ja. Der Himmel ist bei uns. Die Teufel müssen uns erst suchen. Und wenn einen die Teufel gefunden haben, dann hängen sie sich an dich, hauen die Klauen in dich hinein, es ist so schrecklich, so unglaublich schrecklich, man wünscht sich eine Minute Ruhe, nur eine Minute, um nach denen zu rufen, die in einem sind, ob sie noch da sind, man hat solche Angst, dass sie nicht mehr da sind. Das ist meine Meinung zu der Geschichte, aber ich weiß nicht, ob sie …« – Da war es sehr still in unserem Wohnzimmer in der Báthory utca, und alle schauten auf den Boden, Moma, Mama und mein Vater und Opa auch, und Moma griff nach Opas Hand. So still war es, dass ich die Kerzen knistern hörte. Schließlich sagte mein Vater, ihn beruhige am meisten, dass der Mann, der am Anfang noch verrückt war, am Ende in sauberen Kleidern und völlig ruhig seiner Wege gehe, und auch er glaube, dass man das Schweinefleisch ohne weiteres hätte essen können, es werde ja gebraten oder gekocht, dabei würden alle Keime vernichtet. Ich sagte, ich sei auch dieser Meinung, ich jedenfalls hätte gern ein Schnitzel davon gegessen.
Am zweiten Feiertag wollte Moma, dass wir gemeinsam zum Városliget fahren und durch den Park zur Vajdahunyad-Burg spazieren, um uns dort den Anonymus anzuschauen. Der hatte auf mich immer einen albtraumhaft süßen Eindruck gemacht, wie er auf seiner steinernen Bank saß, breit und finster, die Kapuze über dem Kopf, das Gesicht eine schwarze ovale Höhle, in der eine zerschundene Nase und zwei äpfellose Sehlöcher verborgen waren, in der Hand den Schreibgriffel wie ein Mordwerkzeug. Moma versprach, mir – und natürlich auch den anderen, vor allem aber mir, ihrem Liebling – an diesem Ort eine kleine Geschichte zu erzählen; eine Geschichte aus der glorreichen Gesta Hungarorum dieses anonymen Geschichtsschreibers des 12. Jahrhunderts, von dem man nichts wusste, nichts außer, dass sein Name mit einem P begonnen habe – P. dictus magister ; was mir jedes Mal einen Schauder bis in den Nacken trieb (als hätte mich beim Anblick dieses mit Grünspan überzogenen Denkmals eine Ahnung von meinem eigenen zukünftigen Leben gepackt). Solche Ausflüge waren immer ein Glück für mich gewesen. Mein Leben verlief ohne Abwechslung; Freunde hatte ich keine, denn Moma wollte nicht, dass ich auf der Straße spielte. Ich ging in schnellem Schritt in die Schule und in schnellem Schritt nach Hause. Ich sprach mit niemandem und sah niemandem ins Gesicht. Deshalb drängte ich jeden Sonntag darauf, zum Városliget zu fahren oder auf den Gellértberg oder zur Fischerbastei zu spazieren. Es war meine Belohnung für eine Woche, in der ich meine Sache gut gemacht hatte. Und war enttäuscht, wenn am Nachmittag meine Großtante Martha aus der Josefsstadt mit ihrem missmutigen Mann bei uns vorbeischaute und Apfelstrudel mitbrachte; oder, seltener, die aufdringlich heiteren Verwandtschaften großväterlicherseits aus der Franzenstadt, die uns einmal sogar in den Park begleitet hatten, was nicht unbedingt schön gewesen war. Seit mein Vater bei uns lebte, hatte ich mich darauf gefreut, ihm das Denkmal des Anonymus zu zeigen und ihm in Anwesenheit der Familie eine der Geschichten aus der Gesta zu erzählen – oder zu erzählen, wie berühmt Moma sei und dass es nicht nur einmal vorgekommen war, dass sie erkannt wurde. Ich hätte einen kleinen Sketch vorspielen können. »Sind Sie nicht Frau Professor Fülöp-Ortmann? Ich habe Sie mir viel älter vorgestellt. Ich bin ein großer Verehrer.« Einer hatte einmal gesagt, er wohne gleich um die Ecke, und war davongelaufen und mit einem Exemplar ihres Buches zurückgekommen und hatte Moma um ein Autogramm gebeten. »Aber ist es wahr, dass Sie dieses wunderbare Werk mit erst achtundzwanzig Jahren geschrieben haben? Sie haben in mir die Leidenschaft für das alte Ägypten geweckt, ich will, dass Sie das wissen. Dieser Echnaton muss ja ein Genie gewesen sein! Er hat Gott erfunden, man stelle sich vor, und jetzt wird er abgeschafft! Arbeiten Sie an etwas Neuem? Wann dürfen wir es lesen?« – Ich konnte Leute nachmachen, es wäre eine Gelegenheit gewesen, meinem Vater zu imponieren. Dann aber deutete er beim Mittagessen an, er würde
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