Die Abenteuer des Joel Spazierer: Roman (German Edition)
meinetwegen geweint. Ich hätte ihm leid getan. Das sei korrekt, ich hätte ihm mehr leid getan als meine Mutter. Ob er mich als zurechnungsfähig und im Vollbesitz meiner geistigen Kräfte erlebt habe. Das habe er. Jedes Wort, das ich mit meiner Mutter gesprochen hatte, wollte der Herr Staatsanwalt von Polizeimann Paulus Vogt wissen. Der Mann aus Schaan hatte ein tadelloses Erinnerungsvermögen. Er gab den Dialog zwischen mir und meiner Mutter wieder, wie ich ihn hier wiedergegeben habe. Mein anfängliches Stammeln ließ er aus, und auch was ich über den Gott gesagt hatte. Noch einmal schaute er zu mir herüber, trotz seiner nach oben gekrümmten Mundwinkel sah er nun nicht mehr aus, als ob er lächelte. Er hatte sein Haar mit Wasser gekämmt. Er mochte mich. Mit mattem Schritt verließ er den Zeugenstand.
Meinen Vater habe ich nicht mehr wiedergesehen. Meine Mutter auch nicht.
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Ich wurde gesund. Mein Haar wuchs über die Narben, schöner denn je. Mit den Augen sah ich so gut wie vorher, mit den Ohren hörte ich so gut wie vorher. Gesicht und Hände waren sehr weiß, und die goldenen Punkte sehr golden. Kopfschmerzen hatte ich keine mehr. Die Wörter auf den Lippen waren wieder dieselben wie die Wörter im Kopf. Ich schlief ohne Träume, und an den Tagen beschäftigte ich mich mit nichts. Ich saß in meiner Zelle und dachte wenig. Ich lernte wieder, nichts anderes zu tun, als geradeaus zu schauen und nach drei Herzschlägen ein- und nach ebenso vielen auszuatmen. So verbrachte ich viele Nachmittage. Das Essen war pünktlich. Unterhaltung führte ich abends mit den Wärtern. Von denen gab es vier. Mit einem spielte ich Schach. Er kam in meine Zelle und brachte einen Stuhl mit. Ein Brett war mit einem Scharnier an der Wand befestigt, das ließ sich zu einem Tisch hochklappen. Nach Dienstende schenkte er uns beiden einen Becher Bier ein und zündete mir eine Zigarette an, das durfte ich selber nicht. Zehnmal verlor er, einmal gewann er. Er schickte seinen Kollegen, der spielte besser. Wir setzten als Gewinn Schokolade und Zigaretten.
Die Zelle war schmal und lang und roch nach feuchtem frischem Kalk und geöltem Holz; es war ein sauberer Geruch, ich mochte ihn. Die Toilette war hinter einem Vorhang. Wenn ich auf der Pritsche lag, konnte ich durch das Fenster unter der Decke in den Himmel sehen. Im Sommer waren die Sterne klar und nah, um drei Uhr früh voller Mitteilungen. Ich wusste, dass die Welt Reue von mir erwartete, und wartete selbst auf diese Empfindung. Um eine Empfindung handle es sich. Das versicherte mir mein Anwalt, ein rätselhaftes Lächeln in dem Bogen seiner Lippen, Lippen wie die einer Frau, auch so rot. Einsicht allein genüge nicht, sagte er. Ich empfand nichts. Darüber war ich glücklich wie über eine wertvolle Erfindung, die den Menschen das Leben erleichtern könnte. Tauben landeten auf dem Fensterbrett vor den Gittern und gurrten: Non fui; fui; non sum; non curo. – Bin nicht gewesen; bin gewesen; bin nicht mehr; keine Sorge. Sie ließen mich aus den Augen und flatterten wie Schatten davon, und endlich, als der Morgenhimmel stahlblau und ohne silberne Punkte war, schlief ich ein.
Im März war ich aus dem Krankenhaus entlassen und in das Gefangenenhaus überstellt worden. Mit niemandem von draußen hatte ich seither gesprochen – Ausnahme mein Anwalt Dr. Wyss. Moma hatte kommen wollen. Ich wollte sie nicht sehen. Sie sei extra von Wien hierhergefahren. Ich wollte sie nicht sehen. Ich befürchtete, Sebastian würde einen Besuch im Spital beantragen. Ich hätte es nicht über mich gebracht, ihn abzulehnen. Ihn habe ich vermisst, als einzigen. Es wird ihn verlegen machen, wenn er das liest. Weil er glaubt, ich sage das, um ihm zu schmeicheln? Und er hat recht. Ich bin ein Schmeichler. Menschen, die mit so wenigen Gefühlen haushalten müssen wie ich, sind Schmeichler. Ich bemühe mich in meiner Erzählung, eine Wahrheit einzuhalten, womit ich meine: mich für eine Wahrheit zu entscheiden, wann immer sich eine zweite oder dritte oder beliebig viele weitere als Option anbieten – über die Mordnacht und die Monate danach aber haben Sebastian und ich nicht gesprochen. Er fürchtet sich davor. Er fürchtet, es könnte ihm keine Entschuldigung für mich einfallen und er müsste sich eingestehen, dass ich eben doch ein Monster bin. – Bleib bei deiner gnädigen Umschreibung, dass mein Leben ein Schelmenroman sei!
Dr. Wyss war von meiner Mutter engagiert worden. Er habe ihr
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