Die Abenteuer des Joel Spazierer: Roman (German Edition)
könnte!«
»Ja.«
»Haben Sie das Bewusstsein verloren, weil Ihnen Bebe den Kopf eingeschlagen hat?«
»Ja.«
»Könnte es sein, dass Bebe Ihnen den Kopf eingeschlagen hat mit der Absicht, dass Sie das Bewusstsein verlieren?«
»Ja.«
»Könnte es sein, dass Bebe Ihnen den Kopf eingeschlagen hat, um Sie zu töten?«
»Ja.«
»Wissen Sie, warum Bebe Sie töten wollte?«
»Nein.«
»Könnte es sein, um einen Zeugen zu beseitigen? Könnte das sein? Nur, ob es sein könnte . Und damit man nicht gleich weiß, wer der ist, der da liegt, darum hat sie Ihre Papiere verschwinden lassen. Könnte das sein?«
Ich antwortete nicht.
»Ich habe Sie nicht gefragt, ob Sie es wissen, ich habe gefragt, ob es so gewesen sein könnte ? Könnte es so gewesen sein?«
Ich sagte: »Darf ich Sie auch etwas fragen? Warum ist es besonders verwerflich, jemanden wegen Geld zu töten? In Australien haben zwei Burschen eine alte Frau erschlagen und ihr 76 australische Dollar gestohlen. Sie haben fünfundzwanzig Jahre dafür gekriegt. Wenn sie die Frau einfach nur des Auslöschens wegen getötet hätten, würden sie nur fünfzehn Jahre gekriegt haben. Das habe ich nicht verstanden.«
Er zog eine nachdenkliche Grimasse, in der er eine Weile verharrte, neigte seinen Kopf, so dass ich auf seinen Scheitel schauen konnte, klar gezogen war der. Quer über seine Stirn verliefen Falten, der Heiterkeit oder der Bitternis. Ich beeindruckte ihn, allein schon wegen der Art, wie ich formulierte. Schließlich antwortete er leise: »Notwehr ist ein guter Grund zu töten. Hass ist ein guter Grund. Eifersucht ist ein guter Grund. Gekränkte Ehre. Ungerechtigkeit. Immer ist dem Täter etwas angetan worden. Wenn er aber nur des Geldes wegen tötet, ist ihm nichts angetan worden.«
»Und wenn jemand tötet, und er hat keinen Grund?«, fragte ich.
»Warum sollte er es dann tun?«
»Einfach, damit es getan ist.«
»Das gibt es nicht«, sagte Dr. Wyss.
Ich sagte: »Wollen Sie nicht wissen, warum ich es getan habe?«
»Nein, das will ich nicht wissen. Und ich bitte Sie, es mir nicht zu sagen. Weil ich sonst aus innerer Überzeugung die Verteidigung niederlegen müsste.«
»Sie wollen Bebe drankriegen, stimmt’s?«
»Ja«, sagte er.
»Und dann?«
»Wird sie vor Gericht gestellt. Wegen Diebstahls und versuchten Mordes. Versuchter Mord ist so viel wie Mord. Und Bebe ist älter als achtzehn. Sie, Andres, haben aus Notwehr geschossen, wissen Sie das nicht mehr? Aus Versehen haben Sie Frau Lundin getroffen und nicht Bebe, wissen Sie das nicht mehr? Sie haben Bebe treffen wollen. Hätten Sie nicht geschossen, hätte Bebe Sie erschlagen. Wissen Sie das nicht mehr, Andres? Bebe kommt vor Gericht.«
»Und dann?«
»Wird sie ein Kollege verteidigen.«
»Und dann?«
»Wird er Sie beschuldigen.«
»Und dann?«
»Werden Sie unter Umständen ein zweites Mal vor Gericht gestellt. Das ist sehr selten, kann aber sein.«
»Und dann?«
»Verteidige ich Sie ein zweites Mal. Und so weiter und so weiter, wenn Sie wollen, bis ans Ende aller Tage.«
6
Dabei bin ich mir nicht einmal gewiss, ob dieses Gespräch stattgefunden hat. Es könnte auch sein, dass ich es geträumt habe. Das glaube ich aber nicht. Vielleicht habe ich es imaginiert . Das halte ich für möglich. Es fiel mir unsagbar schwer, Dr. Wyss zuzuhören; er sprach viel zu leise, und es gelang ihm nicht, von mir zu sprechen, so dass ich glauben konnte, ich sei gemeint. Ich habe mich gelangweilt, als wäre in einem neuen Naturgesetz definiert worden, dass eine Minute zusammen mit Herrn Dr. Wyss ein Jahr daure. Ich blickte in sein Gesicht, sah, wie sich seine fraulichen Lippen darin in Zeitlupe bewegten, hörte seine Stimme, hörte vor dem Gitterfenster die Amseln, die von diesem Menschennaturgesetz nicht betroffen waren, roch in der Sommerabendluft Heu und den Staub vom Asphalt kurz nach dem Regen – und habe die Konsonanten und die Vokale in der Rede des Anwalts anders zusammengebaut, bis herauskam, was ich oben wiedergegeben habe. So könnte es gewesen sein. Aber dann denke ich wieder, es war nicht so. Denn später vor Gericht hat Dr. Wyss in eben dieser Art argumentiert und damit eine Zeitlang Richter und Geschworene beeindruckt. Vielleicht habe ich das Gespräch tatsächlich imaginiert, aber auf hellseherische Weise; dass ich in meiner Zelle an seinen Lippen und aus den Klängen seiner Stimme bereits gesehen und gehört habe, was diese Lippen und diese Stimme erst Monate später im
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